Aufgrund der großen Nachfrage zeigt das Theater Paderborn Lessings „Nathan der Weise“ einer Vormittagsvorstellung Am 22. April zeigt das Theater Paderborn Lessings berühmtes Drama „Nathan der Weise“ erstmals in einer Vormittagsvorstellung um 11:00 Uhr. Die Inszenierung von Regisseur Klaus Kusenberg, wird seit ihrer Premiere im Januar 2024 fast durchgehen vor ausverkauften Rängen gespielt.
Karten für die Vormittagsvorstellung von „Nathan der Weise“ am 22. April sind ab sofort an der Theaterkasse am Neuen Platz oder online über die Theater-Website (www.theater-paderborn.de) erhältlich. Es ist zu beachten, dass die Theaterkasse vom 24. März bis einschließlich 02. April geschlossen ist. Während dieser Zeit können Tickets weiterhin online bestellt werden.
Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing
In einer Inszenierung von Klaus Kusenberg
Jerusalem. Das Haus des reichen Kaufmanns Nathan brennt. Die Stimmung zwischen Christen, Muslimen und Juden ist zum Zerreißen gespannt – unversöhnlich stehen sie sich in der Frage der „einzig wahren Religion“ gegenüber. Der christliche Patriarch plant die Ermordung des Sultans und die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter. Doch es gibt auch Hoffnung: Aus den Flammen eines jüdischen Hauses rettet ein junger christlicher Tempelherr Nathans Tochter Recha und Nathan versucht, beim Sultan mit der Ringparabel eine versöhnliche Antwort auf die Konflikte der Zeit zu finden. Die Ringparabel ist ein Aufruf zu Toleranz, Humanität und einem friedlichen Miteinander.
Kultur, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion – entlang dieser identitätspolitischen Kategorien verhärten sich zunehmend die Fronten in den westlichen Gesellschaften. Glauben wir noch an die Möglichkeit des Dialogs, an Mitgefühl zwischen den Menschen unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit? G. E. Lessings (1729-1781) Stück ist ein Plädoyer für die Kraft der Vernunft und damit für die Möglichkeit einer friedlichen interkulturellen Verständigung..
Fotos Tobias Kreft
Nathan der Weise
Von Gotthold Ephraim Lessing
Premiere 19.01.2024 / 19:30 Uhr im Großen Haus
Dauer ca. 180 Minuten, inkl. Pause
// BESETZUNG
Nathan Frank Damerius
Recha Annetta Chiantone
Sultan Saladin / Der Patriarch von Jerusalem Eric Rentmeister
Sittah Kirsten Potthoff
Daja Rebecca Madita Hundt
Ein junger Tempelherr Nick-Robin Dietrich
Ein Derwisch / Ein Klosterbruder Thomas Weber
Regie Klaus Kusenberg / Bühne & Kostüme Lena Scheerer / Video Michael Fritzsche / Dramaturgie Dr. Daniel Thierjung / Dramaturgieassistenz Myriam Pechan / Regieassistenz Lena Eckle & Jessica Zug / Regiehospitanz Aiyana Schier / Soufflage Hermann Holstein / Inspizienz Robert Häselbarth / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Michael Bröckling / Beleuchtungsmeister Marcus Krömer / Einrichtung Licht Marcus Krömer / Programmierung Licht Viviane Wiegers / Betreuung Licht Viviane Wiegers, Georg Rolle & Laurin Steinhoff / Ton & Video Till Herrlich-Petry / Requisite Annette Seidel-Rohlf & Sona Ahmadnia / Leitung Kostümabteilung Claudia Schinke / Maske Ulla Bohnebeck & Henriette Masmeier
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Zum Stück
Jerusalem. Das Haus des reichen Kaufmanns Nathan brennt. Die Stimmung zwischen Christen, Muslimen und Juden ist zum Zerreißen gespannt – unversöhnlich stehen sie sich in der Frage der „einzig wahren Religion“ gegenüber. Der christliche Patriarch plant die Ermordung des Sultans und die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter. Doch es gibt auch Hoffnung: Aus den Flammen eines jüdischen Hauses rettet ein junger christlicher Tempelherr Nathans Tochter Recha und Nathan versucht, beim Sultan mit der Ringparabel eine versöhnliche Antwort auf die Konflikte der Zeit zu finden. Die Ringparabel ist ein Aufruf zu Toleranz, Humanität und einem friedlichen Miteinander.
Seit dem mörderischen Überfall der Hamas auf Israel am 07. Oktober 2023 eskaliert erneut die Gewalt im Nahen Osten. Und erneut erscheint „Nathan der Weise“ als Stück der Stunde, das uns mit der Frage konfrontiert: Glauben wir noch an die Möglichkeit des Dialogs, an Mitgefühl zwischen den Menschen unabhängig von ihrer Religion und Gruppenzugehörigkeit? Hat Lessings Plädoyer für die Kraft der Vernunft und damit für die Möglichkeit einer friedlichen interkulturellen Verständigung noch Gültigkeit oder muss der Idealismus der Aufklärung vor den Gräueltaten des 20. und 21. Jhds. kapitulieren?
// Lessing – Dichter der Aufklärung
Kaum einer hat die Entwicklung von Literatur und Theater in Deutschland so nachhaltig beeinflusst wie Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781). Er schrieb hierzulande die ersten Literaturkritiken und kämpfte mit spitzer Feder für ein freies Theater, das nicht mehr das Leben bei Hofe, sondern den Alltag der Bürger thematisiert. Sein Eintreten für Freiheit und Toleranz – auch in Glaubensfragen – machten ihn zum führenden Vertreter der deutschen Aufklärung.
Lessing: Schon als Kind ein Querdenker
Das Streben nach Wahrheit und Deutlichkeit war eines seiner Lebensthemen. Sein zweites war der stetige Kampf um ein Auskommen. Lessings Elternhaus war nicht wohlhabend, aber solide und bildungsbeflissen. Geboren am 22. Januar 1729 in Kamenz (Oberlausitz) wächst Lessing als drittes von zwölf Kindern einer evangelischen Pfarrersfamilie auf. Dem Vater gelingt es, ein Stipendium für die Fürstenschule St. Afra im 50 Kilometer entfernten Meißen zu erwirken, 1741 besteht Lessing dort mit Bravour die strenge Aufnahmeprüfung. Schon in dieser Lehranstalt fällt der Schüler auf: Er denkt quer, fragt nach, lässt sich nicht reinreden.
Den umfangreichen Stoff – darunter Religion, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik und Rhetorik – saugt er wie ein Schwamm auf. 1746 schreibt der Rektor an Lessings Vater: „Er ist ein Pferd, das doppeltes Futter haben muß. Die Lectiones, die andern zu schwer werden, sind ihm kinderleicht. Wir können ihn fast nicht mehr brauchen.“ Lessing bekommt ein halbes Schuljahr erlassen und beginnt in Leipzig auf Wunsch des Vaters ein Theologiestudium.
Student auf Abwegen
Doch zum Theologen fehlen ihm, wie sein Bruder es ausdrückte, „Sprache, Körper und Denkart“. Statt im Hörsaal trifft man den 19-Jährigen oft in geselliger Runde mit Kommilitonen und Schauspielern. Für eine Schauspielcompagnie übersetzt er französische Stücke gegen Freikarten. Nebenbei verfasst er sein erstes Lustspiel „Der junge Gelehrte“, das die Truppe 1748 aufführt.
Die Familie ist von seinem Lebenswandel entsetzt, sie beordert ihn zur Standpauke nach Hause. Lessing aber ist klar: Er hat seine Berufung gefunden.
Inspiriert von der Berliner Aufklärung
Mit einigen Pausen und Umwegen bringt er sein Studium zu Ende, verlässt die Alma Mater 1752 als Magister der Sieben Freien Künste. Da ist er auch schon als freier Schriftsteller etabliert. Denn weil er mit seinem Stipendium für einige mittellose Schauspieler gebürgt hatte, die sich aus dem Staub machten, musste er eine Arbeit annehmen. Er verdingt sich bei einer Berliner Zeitung als Feuilleton-Redakteur, sein witzig-ironischer Stil gefällt. Übersetzungsaufträge kommen hinzu.
Berlin ist Mitte des 18. Jahrhunderts dank der religiösen Toleranz von Preußenkönig Friedrich dem Großen ein Zentrum der Aufklärung. Lessing taucht ein in die philosophisch-literarischen Kreise, im „Montagsklub“ debattiert er rege mit.
Freundschaft und gemeinsame Werke mit Moses Mendelssohn
Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (1729 bis 1786) wird sein lebenslanger Freund und
Diskussionspartner, etwas später komplettiert der Verleger und Kritiker Friedrich Nicolai (1733 bis 1811) das Kleeblatt.
Ab 1759 geben die drei wöchentlich die „Briefe, die neuste Literatur betreffend“ heraus – Rezensionen der aktuellen Belletristik-Veröffentlichungen. Sie sind geschrieben im Dialogstil an einen fiktiven verwundeten Offizier des Siebenjährigen Krieges. Die Kritiken stecken voll Scharfsinn und Spott. Mit ihrer treffsicheren Polemik regen sie zum Selbstdenken an.
„Minna von Barnhelm“: Erste klassische deutsche Komödie
Lessing ist mittlerweile 30 und muss feststellen, dass ein Literat sich einen annehmlichen Lebenswandel nur leisten kann, wenn er ein festes Grundeinkommen bezieht. Obwohl es ihm widerstrebt, sich „zum Sklaven zu machen“, fängt er in Breslau als Sekretär beim preußischen Kriegsgeneral Tauentzien an – für ihn immerhin eine Gelegenheit, „mehr unter Menschen als unter Büchern zu leben“. Aus den Breslauer Jahren gewinnt er den Stoff für „Minna von Barnhelm“, die erste klassische deutsche Komödie.
Lessing am Hamburger Nationaltheater
Seit 1881 steht ein von Fritz Schaper entworfenes Lessing-Denkmal auf dem Hamburger Gänsemarkt.
„Minna von Barnhelm“ wird 1767 in Hamburg uraufgeführt. Denn inzwischen erreichte Lessing der Ruf, als Dramaturg und Berater das dortige Nationaltheater mit aufzubauen: das erste bürgerliche Theater Deutschlands. Neben den Hoftheatern gab es bislang nur wechselnde Bühnen für wandernde Schauspieltruppen. Zwölf Theaterbegeisterte hatten ein Gebäude am Gänsemarkt gepachtet und wagten sich an das neue Unternehmen.
Lessing mietet sich auf dem Holländischen Brook ein, im Hafenviertel, und beginnt enthusiastisch mit der Arbeit. Aus seinen Aufführungsrezensionen erwächst die wegbereitende „Hamburgische Dramaturgie“, in der er die damals modischen französischen Stücke bissig auseinandernimmt und immer wieder Shakespeare rühmt, der in Deutschland bis dato unbekannt ist.
Kein Auskommen mit dem Einkommen
Doch erleidet er finanziell erneut Schiffbruch. „Mit unserm Theater (das im Vertrauen!) gehen eine Menge Dinge vor, die mir nicht anstehn. Es ist Uneinigkeit unter den Entrepreneurs, und keiner weiß, wer Koch oder Kellner ist“, schreibt er im Mai 1767 an seinen Bruder. Nach zwei Spielzeiten muss die Bühne Bankrott anmelden. Auch Lessings Versuch, mit Johann Christoph Bode ein Druck- und Verlagsunternehmen aufzubauen, scheitert – er verliert all sein Geld als Teilhaber. Mittellos steht er da und muss sich nach einem neuen Posten umsehen.
Als Bibliothekar in Wolfenbüttel
Lessing tritt 1770 eine Stelle an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel an.
Den findet er, eher notgedrungen, in Wolfenbüttel: 1770 tritt er die ehrenvolle, jedoch schlecht dotierte Stelle an der weltberühmten Herzog-August-Bibliothek an. Als Unterkunft hat er fünf Zimmer in dem leer stehenden Schloss zur Verfügung, bald legt er sich aber einen „Stadtsitz“ im belebteren Braunschweig zu. „Eigentliche Amtsgeschäfte habe ich […] keine andere, als die ich mir selbst machen will. Ich darf mich rühmen, daß der Erbprintz mehr darauf gesehen, daß ich die Bibliothek, als daß die Bibliothek mich nutzen soll“, berichtet er seinem Vater.
Anfangs fördern die Bücher seinen Schaffensdrang – 1772 veröffentlicht er „Emilia Galotti“, ein politisches Drama, im Aufbau der Prototyp für alle folgende klassischen Tragödien. Goethe lobt es hoch, und Schiller urteilt: „Ein Trauerspiel voll Salz.“
Doch der Provinzalltag bekommt Lessing auf Dauer nicht. „Es ist nie mein Wille gewesen, an einem Orte, wie Wolfenbüttel, von allem Umgange, wie ich ihn brauche, entfernt, zeit meines Lebens Bücher zu hüten“, schreibt er 1774 sauertöpfisch dem Bruder, und einem Freund klagt er: „Mit mir ist es aus; und jeder dichterische Funken, deren ich ohnedies nicht viel hatte, ist in mir erloschen.“
Spätes Einlaufen in den Ehehafen
Viel bedeuten Lessing in der Wolfenbütteler Ermitage seine Beziehungen zu Hamburg. Denn einerseits wurde er 1771 in die Freimaurerloge „Zu den drei Rosen“ am Dammtor aufgenommen – deren Denkart er unterstützt, die er allerdings nur selten besucht. Andererseits hat er an der Elbe geschätzte Freunde gewonnen, darunter den Musiker Philipp Emanuel Bach, die Familie des Theologen Reimarus und die Familie König, für deren jüngsten Sohn er die Patenschaft übernahm.
Als Engelbert König stirbt, kümmert sich Lessing um die Witwe Eva. 1770 beginnen sie einen Briefwechsel, schon 1771 verloben sie sich. Eva König ist wegen der Nachlassgeschäfte meist in Wien, sodass beide fünf Jahre lang eine Fernbeziehung führen. Die Korrespondenz aus dieser Zeit trieft nicht von Sehnsucht oder Pathos, sondern zeugt von einer Freundschaft zweier Einsamer, Gebeutelter. Am 8. Oktober 1776 wird Hochzeit gefeiert, im Haus von Bekannten des Paares in Jork.
Schmerzvoller Verlust
Lessings Familienglück sollte nur kurz währen. Am Weihnachtsabend 1777 kommt sein Sohn Traugott als Zangengeburt zur Welt – er überlebt keine 24 Stunden. Eva fällt ins Kindbettfieber. Silvester 1777 schreibt Lessing an Johann Joachim Eschenburg: „Freylich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“ Am 10. Januar 1778 stirbt Lessings Frau.
Der Fragmentenstreit eskaliert
Der Dichter stürzt sich nur umso tiefer in die Arbeit – „jeder zerstreut sich so gut als er kann“. Schon zu Anfang seiner Wolfenbüttler Zeit hatte er die „Fragmente eines Ungenannten“ herausgegeben, vorgeblich ein Fund aus der Bibliothek – in Wahrheit stammte die aufsehenerregende Bibelkritik aus der Feder des Freundes Reimarus. Auf die Angriffe kirchlicherseits hin verfasste Lessing beißende Polemiken, insbesondere seinen bekannten „Anti-Goeze“, die Abrechnung mit dem Hamburger Hauptpastor. Doch erreicht die Orthodoxie beim Herzog, dass er Lessing weitere theoretische Veröffentlichungen untersagt.
„Nathan der Weise“: Poetische Antworten auf theologische Fragen
Der aber gibt nicht auf. Zeitlebens ging es ihm um die religiöse Wahrheit – um den Kampf gegen stumpfe Buchstabengläubigkeit, für ein tolerantes Christentum, auch gegenüber anderen Glaubensrichtungen. Lessing verspürt Sendungsbewusstsein. „Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen“, schreibt er 1778 an Elise Reimarus. Und er findet die Form für sein Humanismusplädoyer in einem dramatischen Gedicht mit fünffüßigen Jamben: 1779 erscheint „Nathan der Weise“, das erste weltanschauliche Ideendrama – und Lessings Meisterwerk.
Die „Erziehung des Menschengeschlechts“, an der er weiterarbeitet, ist Lessing ein Anliegen. Doch er spürt, dass es mit ihm körperlich bergab geht. Seinem Freund Mendelssohn schreibt er im Dezember 1780: „Auch ich war damals ein gesundes schlankes Bäumchen; und bin itzt ein so fauler knorrichter Stamm! Ach, lieber Freund! Diese Scene ist aus!“
Am 15. Februar 1781 stirbt Lessing 52-jährig an „Brustwassersucht“ – so arm, dass er in Braunschweig auf Staatskosten beerdigt werden muss.
Quelle: Britta Probol, 09.03.2019 https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/gotthold-ephraim-lessing-dichter-aufklaerung,lessing145.html (zuletzt aufgerufen am 10.01.2024)
// Das Werk in seinem historischen Kontext
Die Aufklärung
Kein anderer deutschsprachiger Dichter wird so sehr mit den Idealen der Aufklärung identifiziert wie Lessing. Was ist Aufklärung? Drei Jahre nach Lessings Tod gibt Immanuel Kant die berühmteste Antwort auf diese Frage: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Diese Aufforderung musste provozierend klingen in einer Zeit, in der noch die Bevormundung als Prinzip galt und die Herrscher nach der Devise regierten: Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk. Doch der Prozess der Aufklärung, der etwa um die Mitte des 18. Jhdts. einsetzte, war anfangs nur von einer kleinen Gelehrtenschicht getragen und selbst dann, als er langsam alle Gebildeten der Gesellschaft erfasste, betraf dies eine Minderheit der Bevölkerung. Hinzu kam, dass die Aufklärer nicht von politischen Umwälzungen ausgingen, sondern von geistigen. Die meisten waren sogar der Ansicht, dass ein weitblickender Herrscher die Reformen am ehesten durchsetzen könne, ja musste. Es kommt zu einer Verbindung zwischen Absolutismus und Aufklärung. Viele absolutistische Fürsten sind stolz darauf, aufklärerisch zu wirken, zum Beispiel Friedrich II. (1740-1786).
Er sieht sich nicht mehr als Stellvertreter Gottes, sondern als der vom Volk selbst berufene „erste Diener“. Kant nennt das „Zeitalter der Aufklärung“ auch das „Jahrhundert Friedrichs“.
Gefördert wird die Verbindung durch den steigenden Bedarf des Staates an ausgebildeten Verwaltungskräften, die die Effektivität der Wirtschaft steigern und das Bildungssystem verbessern. Aufklärer streben nach einer höfisch-staatlichen Stellung, auch deshalb, weil das Hofleben noch immer den zentralen Bezugspunkt der Gesellschaft bildet. Und so entwickelt sich kurioser Weise im Beamten- und Verwaltungsbereich eine neue, soziale Schicht, die an den Reformbestrebungen regen Anteil hat. Sie ist auch die treibende Kraft für die zahlreichen Vereinigungen, Zirkel und Gesellschaften, etwa die Freimaurer, die sich in dieser Zeit bilden und aufklärerisches Gedankengut verbreiten.
Lessing ist es, trotz reger Bemühungen seiner Freunde, nie gelungen, eine Stelle im Einflussbereich Friedrichs II. zu erlangen. Er hatte sich die Gunst des Königs durch verschiedene Äußerungen, etwa sein Eintreten für die englische dramatische Literatur, verscherzt.
Dass der aufgeklärte Absolutismus ein enges Korsett hatte, zeigt sich besonders in der Einschränkung der Diskussionsfreiheit. Lessing hat immer wieder versucht, durch die damals modernsten Medien, Zeitung und Theater, Bildung zu vermitteln, damit ein aufgeklärtes Publikum zu schaffen und die Diskussionsbereitschaft anzuregen: „Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.“
Doch Lessing musste des öfteren erkennen, wie schwierig es ist, das Bewusstsein einer eigenen, öffentlich ausgesprochenen Meinung im Menschen zu initiieren, weil die Bürger davor zurückschrecken, weil die Obrigkeit es verhindert. 1769 schreibt er: „Lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugen und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es jetzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.“
Lessing gibt nicht auf. Noch am ehesten erlaubt war die Diskussion über theologische Fragen. Sie sollte den Menschen aus der religiösen Gebundenheit in die Freiheit der Vernunft führen. Mit der Herausgabe der Reimarus-Fragmente wollte Lessing eine solche Diskussion bewusst provozieren. Als aber im Verlauf der Debatte Lessings Gegenspieler, der Hauptpastor Goeze, auf die Gefährdung der staatlichen Ordnung hinwies, wurde dem Dichter von seinem Fürst, dem Herzog von Braunschweig, jede weitere öffentliche Meinungsäußerung verboten. „Nathan der Weise“ ist Lessings Antwort darauf. (…)
Zur Entstehungsgeschichte des „Nathan“
Die Auseinandersetzung mit der Theologie war für einen aufklärerischen Schriftsteller des 18. Jhdts. unvermeidlich, dies schon deshalb, weil meist beamtete Theologen die staatliche Zensur ausübten. Hinzu kommt im Falle Lessing, dass er aus einem Pfarrhaus stammte und Theologie zu studieren begonnen hatte. Er ist dann der theologischen Laufbahn ausgewichen, die letzten zehn Jahre seines Lebens widmete er aber wieder überwiegend der Theologie.
Als Bibliothekar in Wolfenbüttel wollte Lessing die Bücherschätze wenigstens teilweise der Öffentlichkeit vorstellen und gab die „Beiträge zur Geschichte und Literatur“ heraus. In diesen veröffentlichte er auch Manuskripte seines verstorbenen Freundes Reimarus, der die Bibel kritisch durchleuchtete. Die Brisanz der Fragmente liegt nicht so sehr in den – Fachleuten geläufigen – Inhalten, als vielmehr in ihrer Publikation. Lessing gibt vor, den Verfasser nicht zu kennen und die Fragmente in der herzoglichen Bibliothek gefunden zu haben. Er dosiert die Herausgabe geschickt, will Diskussion entfachen. Aus Hamburg kommt endlich der ersehnte Widerspruch. Der wortgewaltige Hauptpastor J.M. Goeze protestiert. Damit beginnt die heftigste Religionsdebatte des 18. Jhdts. Lessing contra Goeze, der Einzelkämpfer gegen den angesehenen Vertreter von Kirche und Obrigkeit. (…)
Geschickt nützt Goeze seinen Einfluss und die jahrhundertelange enge Verbindung zwischen weltlicher und kirchlicher Macht. Er setzt die Infragestellung kirchlicher Offenbarungslehren mit einem Angriff gegen die fürstliche Herrschaft gleich. Lessings Arbeitgeber, der Braunschweiger Herzog, reagiert: Er verbietet seinem Untertanen den theologischen Streit in der Öffentlichkeit fortzusetzen. Aber der einfache Bürger Lessing gibt sich damit nicht geschlagen. Er nützt die ihm verbleibenden Möglichkeiten: „Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“ Die Predigt heißt „Nathan der Weise“.
Quelle: Medienbegleitheft zur DVD 12452: LITERATUR UND IHRE ZEIT. Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing. Hrsg. BUNDESMINISTERIUM FÜR
UNTERRICHT, KUNST UND KULTUR
http://www.bmukk.gv.at/schulen/service/mes/specials.xml
// Toleranz. Lesarten von Angelika Overath und Navid Kermani
Angelika Overath
Die Erzählung von den drei Ringen ist so alt wie der Streit der drei großen Religionen. Sie geht auf eine Wanderfabel aus der Zeit der Kreuzzüge zurück. Lessing aktualisiert sie, indem er sie dynamisiert. Mit dem Opal, der in hundert Farben spielt, verlagert er die Perspektive von dem einen gültigen Ursprung auf eine in Facetten aufbrechende Welt, in der viele Kulturen nebeneinander schillernd bestehen. Da als Garant der Echtheit des Rings nun seine Wirkung verstanden wird, wird bei Lessing ein Wettstreit in Gang gesetzt, eine ehrgeizige Olympiade um den besten Glauben, in dem allerdings der demütige Stachel der sozialen Verantwortung steckt. Nur wer herausragend vor Gott und den Menschen angenehm ist, kann der Träger des echten Ringes sein. Statt eines Schachmatt, das letztlich alle Spieler bewegungsunfähig macht und die Partie beendet, öffnet sich nun den Spielern ein Horizont von tausend und abertausend Jahren des Miteinander-Wetteiferns. Hier ist, unschwer zu erkennen, der Weg das Ziel.
Wie aber werden die um den echten Ring streitenden Söhne auf diesen Weg gebracht? Sie kommen zu einem Richter und erzählen ihre Geschichte. Der Richter rekapituliert die Geschichte und legt sie aus. Das uralte Märchen von den drei Ringen ist selbst Rezeptionsgeschichte, und es thematisiert Rezeptionsgeschichte. Wie die drei Religionen, die auf Geschichte gründen – »geschrieben oder überliefert« -, so hat im Kleinen auch diese Kreuzzugswanderfabel ihre Dignität in ihrer tradierten Herkunft und ihre Utopie in einer Auslegung, die sie immer wieder weitergibt. Damit aber geht es in Nathans Märchen auch um die Wirkungsmacht von Literatur.
Im Stück rettet Nathan sein »Gut und Blut«, indem er ein Märchen erzählt. Mit dem Stück rettete sich Lessing, indem er durch ein »dramatisches Gedicht« – was immer das sein sollte – die Schreibzensur in seiner Auseinandersetzung mit einem kleingeistigen Pastor umging. Zudem gibt ihm die Geschichte vom weisen Nathan, der die Züge Hiobs trägt, einen sehr persönlichen Erzählraum. Hier konnte Lessing sich zum Verlust von Frau und Sohn verhalten und sich mit jener schmerzhaft-beglückenden Beziehung auseinandersetzen, die ihn an seine Stieftochter band. Auch diese Liebe erhält, reiner als im Leben, hier ihre vieldeutige, freie Gestalt.
Erzählen ist Strategie und Therapie.
Erzählen initiiert ein bittersüßes Spiel mit dem offenen Horizont der unendlichen Lektüre. So können Erzählen und Zuhören, Schreiben und Lesen den Tod und das Töten für 1001 Nacht vergessen lassen. Der Sieg der Literatur über die politische Macht ist ein Märchenstoff.
(…)
Der Problemkreis des märchenhaften »dramatischen Gedichts« bleibt mit schwarzen und weißen Steinen und mit Steinen, die in hundert schönen Farben spielen, gefaßt.
Nathans Strategie, zu erzählen statt als Jude zu ziehen, gelingt, aber dieses Gelingen setzt luxuriöse Umstände voraus. Denn Saladin ist durchaus kein orthodoxer Muselman. Bereits in der Schachszene, noch vor jeder Begegnung mit dem Toleranz propagierenden Nathan, imaginiert Saladin eine Überkreuzheirat mit einem christlichen Herrscherhaus. Er hat die Vision eines religiös gemischten Geschlechts, bevor ihm Nathan seine christlich-jüdischen Verwandten bringt. Saladin ist gebildet, sensibel, aufmerksam, und Nathan betritt im Sultanspalast aufgeklärten Boden. Auch etwas anderes darf nicht vergessen werden. Nathan führt eine Familie zusammen. Auch wenn sich hier Vertreter der drei Religionen als miteinander verwandt erkennen, hat das für die konkrete politische Situation kaum Konsequenzen. Die Kreuzzüge gehen weiter. Saladin verschonte den einen konkreten Tempelherrn, weil der ihn an seinen Bruder erinnerte, läßt aber die anderen Gefangenen töten. Später liebt er den Tempelherrn, weil er der Sohn seines Bruders ist. Aber wird er angreifende Tempelherren tolerieren können?
Nathan betreibt Politik. Eine Politik freilich, die beim Nachbarn beginnt und endet. Hier im unmittelbaren Kommunikationsradius des Zusammensprechens ist er ein erfolgreicher Schachspieler und Erzähler. Er kann strategisch Züge entwerfen, und er weiß auch, wo das rationale Denken an seine Grenzen stößt, wo ein Märchen vielleicht weiterhelfen kann. Der Weltfriede ist der utopische Horizont des Dramas. Nathans konkreter Triumph aber sind wechselseitige stumme Umarmungen. Nicht mehr. Nicht weniger.
Lessings Stück bleibt eine Spielanleitung zum Denken und eine Verführung zum Glauben an die Humanität, der seit über 200 Jahren in ungezählten Theatern, Klas-senzimmern, Palästen und Hütten nachgegeben wird. Angesichts von selbstgerechtem Terror und chauvinistischer Kriegsgier mag dieser Erfolg ohnmächtig stimmen. Gemessen an der Nathanschen Frage »Was sind wir Menschen« schenkt er ein trotziges Bescheiden.
(…)
Die Parabel, das Märchen von den drei Ringen, ist eine ästhetische Versöhnungsfigur, keine Anleitung zu versöhnender Praxis. Sie verdankt ihre Gültigkeit der besonderen erzählerischen Gestalt: den Bildern und Personifikationen, den unverhofften Wendungen und Pointen und nicht zuletzt jenen holpernden und doch seltsam bestechenden Versen, in denen das »Geschichtchen« fast schüchtern vorgetragen wird. Die davon abziehbare Moral der gegenseitigen Achtung und Überbietung in menschenfreundlicher Praxis bleibt dagegen, für sich genommen, blaß. Schon auf der Ebene des Stücks ist sie nicht in eine allgemeine Praxis überführbar. Über konkrete Handlungsanweisungen zum Beenden der Kreuzzüge verfügt auch die neue Familie nicht.
Das Märchen wirkt nicht, weil es alltagspraktisch konkretisierbar wäre, sondern es wirkt als eine betörende Figur der Verheißung. Seit fast einem Jahrtausend hält es den Anspruch offen, daß wir zu angenehmeren Menschen werden könnten, daß Friede möglich sei zwischen den Religionen, zwischen den Kulturen: möglich dann, wenn wir uns die notwendige Zuversicht bewahren. Es ist ihre ästhetische Stimmigkeit, die die Parabel zeitlos macht: gültig für das 12. Jahrhundert, in dem sie entstand, für das 14., in dem Boccaccio sie populär werden ließ, für das 18., in dem Lessing sie erzählte, für das 21. Jahrhundert, in dem wir heute von ihr handeln.
Navid Kermani
Lessings »Nathan« mit seinem Märchen vom Ring spielt Anfang 2003 im Berliner Ensemble. Auf der Bühne ist die Einfallslosigkeit modern verpackt, im Parkett sitzen Schulklassen, die lernen sollen, daß der Jude und der Muselman auch nicht so schlechte Brüder seien. Man hört es kichern, man hört, wie Lehrer zischen. Immer wieder klingelt ein Handy. Immerhin tröstet die Schauspieler eine Auslastung, von der sie im Berliner Ensemble heute sonst nur träumen, fast hundert Prozent. Der Intendant kann aber nicht nur mit den Zahlen prahlen. Noch wichtiger ist: sein Haus tut etwas für die Völkerverständigung. Ohne Toleranz geht es nicht. Toleranz weist heute jede corporate identity aus: kein großes Unternehmen, das nicht mit aufwendigen Konferenzen Toleranz verbreitete; keine Akademie und keine Stiftung, die ohne Toleranzprogramme auskäme, keine Werbung für Softdrinks oder Zigaretten, die sich
der Weltversöhnung der Vereinten Farben entzöge, und inzwischen auch kaum ein Stadttheater mehr, kein Literaturfestival, kein Musikfest, das sich nicht für die interkulturelle Verständigung engagierte. Wohin man schaut: gute Menschen. Und nirgends wollen sie besser sein als ausgerechnet im Berliner Ensemble, dem Haus der beiden großen Giftspritzer Bertolt Brecht und Heiner Müller.
Auch Lessing hat zu seiner Zeit, nicht anders als später Brecht und Müller, Gift in die Blutbahnen der herrschenden Meinungen gespritzt. Daß er im Europa des 18. Jahrhunderts die Existenz einer absoluten religiösen Wahrheit bestritten hat, daß er Juden und Muslime als Menschen auf die Bühne bringen wollte, die den christliechen Protagonisten an Weisheit und Güte ebenbürtig, ja überlegen waren, zeugt von einem provokanten Humanismus, wie er im aufklärerischen Denken kaum je eingeholt wurde. Lessing ging es um Kritik, nicht um Affirmationen: Indem er den möglichen Frieden der Religionen beschwor, kritisierte er die reale Gewalt des Christentums. Um das Judentum ging es ihm dabei nur sekundär, um den Islam in diesem Stück fast gar nicht. Dabei hatte sich Lessing zuvor intensiv mit der islamischen Kultur beschäftigt und bereits fünfundzwanzig Jahre vor dem »Nathan« die europäische Polemik gegen Mohammed analysiert und zurückgewiesen, so in seiner Rettung des Cardanus.“ Lessing hätte also in einem Stück über die islamische Geschichte viel zu sagen gehabt, doch im »Nathan« breitete er seine erstaunliche Kenntnis über den Islam nicht aus, sondern beließ es bei Andeutungen, etwa wenn der weise Richter, der es ableimt, zu entscheiden, welcher der drei Ringe der echte sei, das Leitmotiv der Ringparabel formuliert: »(…) komme dieser Kraft (des Steins) mit Sanftmut, / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / mit innigster Ergebenheit in Gott, / zu Hülf’«. »Innigste Ergebenheit in Gott«, das ist nichts anderes als eine Übersetzung des Wortes »Islam«, und Lessing wußte das natürlich, wie Friedrich Niewöhner hervorgehoben hat. Aber Lessing spricht es im Dramentext nicht aus, auch reflektiert er nicht darüber, weil er mit dem »Nathan« kein »Lehrstück« über den Islam oder das arabische Reich zur Zeit Saladins verfassen wollte, sondern über die Möglichkeit, menschlich zu sein, ohne ein Christ zu sein. Der Orient diente Lessing besonders in diesem Stück wie häufig in der europäischen Aufklärung als Fläche, auf die das — je nach Bedarf positive oder negative – Gegenbild zur eigenen Kultur projiziert wurde. Deshalb möchte ich, wenn ich hier versuche, die Ringparabel des »Nathan« im Jahr 2003 zu orten, im folgenden auch nicht auf den Islam eingehen, sondern auf den westlichen Umgang mit ihm – und also auf den Begriff der Toleranz.
Man kennt die Anlässe, die Lessing 1778 zum »Nathan« bewogen haben: den Streit mit dem Hauptpastor Goeze und der protestantischen Orthodoxie, die Zensur des braunschweigischen Herzogs. Weil er die intellektuelle Debatte nicht mehr führen durfte, wich Lessing auf das dramatische Gedicht aus, um »dem Feinde auf einer anderen Seite damit in die Flanke« zu fallen: »Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.« (Brief vom 6. 9. 1778 an Elise Reimarus, »Gesammelte Werke«, hg. von Paul Rilla, IX, 798L) Doch Lessing mußte feststellen, daß er die Aufklärung nicht predigen durfte, nicht einmal auf dem Theater. Der Staat, in dem Lessing lebte, war nicht tolerant genug, um ein Toleranzstück zu ertragen. Eine Aufführung des »Nathan« hat Lessing nicht mehr selbst erlebt.
Das war vor über zweihundert Jahren, und die Welt geht seither gewiß nicht freundlicher mit den Menschen um. Geändert jedoch haben sich die Meinungen. Um nur das Wort »Aufklärung« zu nehmen – schon mit dem Aufkommen der Romantik, ein, zwei Jahrzehnte nach Lessings Tod, war es zum Schlagwort geworden, das die Eliten weniger bekämpften als bespöttelten. Lessings Toleranzbegriff ist zunächst vom bürgerlichen Normalbewußtsein, später auch von den Kirchen so restlos aufgesogen worden, daß er jeden herrschaftskritischen Impuls verloren hat. Vor zweihundert Jahren galt Lessing der protestantischen Orthodoxie als ein Extremist; heute gälte jede
politische, religiöse oder gesellschaftliche Kraft als extremistisch, die sich dazu bekennt, Anders-Gläubige, Anders-Rassige, Anders-Denkende für minderwertig zu halten. Intoleranz als politisches Denken und Handeln setzt im 21. Jahrhundert voraus, daß sie als Toleranz verkauft wird, am einfachsten durch die Behauptung, die eigene Toleranz wehrhaft gegen die Intoleranz verteidigen zu müssen.
Von Funktionären und Predigern muß man nicht erwarten, daß sie die Banalisierung und Industrialisierung der Toleranz kritisch reflektieren. Aber ein Theater, das den Wandel im öffentlichen Bewußtsein ignoriert und so tut, als wäre es heute noch ebenso provokant wie im Jahr 1778, zur Verständigung der Religionen aufzurufen, macht sich nicht nur lächerlich; es denunziert und trivialisiert das Stück – gerade indem es ihm treu zu sein glaubt. Das hat Lessing nicht verdient, nicht mit Blick auf seine eigene Welt und nicht mit Blick auf die unsere. In Zeiten des Genozids, des religiösen Terrorismus und der weltweiten Kulturalisierung politischer Konflikte ist Lessings Botschaft nicht überholt. Sie ist auch und schon gar nicht im Europa des Jahres 2003 überholt, sechzig Jahre nach der Auslöschung jüdischen Lebens, zehn Jahre nach der christlichen Belagerung Sarajewos, zwei Jahre nach der Ankündigung des italienischen Ministerpräsidenten, die »islamische Welt zu erobern«, und schon gar nicht in diesen Wochen, da die führende Nation des Westens auf Kreuzzug gegen das Böse geht. Aber wer heute Lessings Botschaft, wie sie sich in der Ringparabel verdichtet, auf die Bühne bringen möchte, muß einbeziehen, daß sie gerade deshalb so wenig Gehör findet, weil sie zum Allgemeingut geworden ist, mit dem selbst die-jenigen noch sich brüsten, die nicht mehr nur gegen politische Gegner, sondern gegen ganze Kulturen kämpfen. Ein Theater, das Lessings Botschaft ernst nimmt, müßte sich fragen, warum diese Botschaft so leer geworden ist, daß die Orthodoxen aller Religionen, die Staatenlenker und die Teilnehmer der Weltwirtschaftstreffen sie wie ein Mantra aufsagen, die Kulturen, Religionen und übrigen Identitätsmaschinen sich aber dennoch von Tag zu Tag aggressiver gebärden. Um an Lessings Utopie zu glau-ben, müßte man sie heute negieren, sonst wird sie affirmativ und damit zum Gegenteil dessen, was sie 1778 gewesen ist.
Lessing selbst hat die materielle Verwertbarkeit der Toleranzrede benannt, wenn das in seiner erbaulichen und deshalb blinden Rezeption auch übersehen wurde und wird. »Das wars! Das kann / Mich retten!« sagt Nathan, als ihm die Idee kommt, Saladin die Ringparabel zu erzählen. »Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.« Das ist die Parabel im Jahr 1778 und wäre sie auch im Jahr 2003: Nathan speist Saladin, der sich, bedrängt von Kreuzfahrern und Wirtschaftskrise, nach ein bißchen Frieden sehnt, mit einem Märchen ab, und der findet es so hübsch, daß er Nathan reich belohnt: Toleranz als Verkaufsstrategie. Von wenigen Interpreten bemerkt, hat Lessing im »Nathan« den ersten Makler der Humanität geschaffen. Er hat die Ringparabel damit nicht diskreditiert noch sich von ihrer Botschaft distanziert. Sie verliert nicht ihre Gültigkeit dadurch, daß Saladin, der im Stück als ein Despot eingeführt wird, sich von ihr hinreißen läßt, so wenig wie »Nathan der Weise« ein unbedeutendes Stück ist, nur weil Claus Peymann es bedeutend findet. Aber Lessing hat bewußt auf die Anfälligkeit gerade auch des Despoten verwiesen, sich zwischen den Amtsgeschäften in seiner Mitmenschlichkeit zu sonnen. Sie ist Führern von Staaten, Konzernen und Theatern noch immer auffällig oft zu eigen. Damit hat Lessing selbst visionär die Ambivalenz seiner schönen Utopie festgehalten, die sich gerade in Zeiten der alten wie der neuen Kreuzzüge zur Verdrängung eignet. (…)
Quelle: Nusser, Peter (Hrsg.): Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahre 2003. Von Angelika Overath, Navid Kermani und Robert Schindel. Wallstein 2015, S. 26-37.