Kein Weltuntergang
von Chris Bush
Deutsch von Gerhild Steinbuch
Dauer ca. 75 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Hamburg
// BESETZUNG
Uta Kirsten Potthoff
Anna Veronika Wider
Lena Johanna Graen
Lilly Mirjam Radovic
Regie Katharina Kreuzhage / Bühne & Kostüme Ariane Scherpf / Video Valerij Lisac / Dramaturgie Michael Kaup / Regieassistenz Helena Niehaus & Jessica Zug / Regiehospitanz Johanna Flörke / Soufflage Hermann Holstein / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Fabian Köhler / Beleuchtungsmeister Marcus Krömer / Programmierung & Betreuung Licht Viviane Wiegers / Einrichtung Ton & Video Tim Klöpper & Till Herrlich-Petry / Requisite Annette Seidel-Rohlf & Sona Ahmadnia / Leitung Kostümabteilung Lisa Brzonkalla / Maske Ulla Bohnebeck
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Inhalt
Ein mies gelaufenes Bewerbungsgespräch noch einmal neu starten? Die Zeit zurückdrehen? Klar, das geht nicht. Vielleicht muntert aber das auf: Wenn Dr. Anna Vogel bei Prof. Uta Oberdorf wegen einer Postdoc-Stelle zur Klimaforschung vorspricht und das schief läuft, dann gibt es in den Unendlichkeiten des Universums mindestens eine alternative Realität, in der Anna den Job bekommt. Lena erzählt diese tröstende Idee von Multiversen, während sie eine Trauerrede für ihre Mutter Anna hält. Sie ist Teil genau einer der vielen Realitäten, die wir von Anna und Uta zu sehen bekommen. Vielleicht Teil der Realität, in der wir uns grade aufhalten? Jedenfalls eine Realität, in der sich die Erde noch nicht so stark erwärmt hat, dass Leben unmöglich geworden ist. Wenn es um Leben und Tod geht, dann zählt eben doch nur eine Realität – die, die wir selbst schaffen.
Chris Bush (*1986) erkundet das Phänomen Klimakrise in ihrer Überforderung, die sie für uns Menschen mit sich bringen kann. Durch die Erzählung einer nicht linearen Geschichte werden Auswirkungen unseres Handelns collagenhaft nebeneinandergestellt. „Kein Weltuntergang“ lotet die Grenzen individueller Verantwortung und kollektiver Handlungsfähigkeit aus.
FOTO Meinschäfer Fotografie
// Chris Bush (*1986)
Bush wurde in Sheffield, England, geboren. Sie studierte an der University of York und lebt derzeit in London. Mit der Arbeit TONY! The Blair Musical machte Sie erstmals 2007 auf sich aufmerksam. 2012 gab Bush dann ihr Debüt in voller Länge als Autorin und Darstellerin mit der musikalischen Komödie The Loves I Haven’t Known. 2012 bis 2013 war Bush Autorin am National Theatre Studio und 2013 für die Sheffield Theatres, wo sie The Sheffield Mysteries schrieb, eine zeitgenössische Version der mittelalterlichen Mystery Plays unter der Regie von Daniel Evans. Danach war sie Artist in Residence für das Oxford Playhouse und das Sheffield Theatre sowie Mitglied des Orange Tree Theatre Writers‘ Collective. Für ihre Stücke und Musicals wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2014 mit dem Perfect Pitch Award und dem UK Theatre Award, den sie 2018 für The Assassination of Katie Hopkins und 2019 für Standing at the Sky‘s Edge verliehen bekam. 2021 erhielt sie das Autorenstipendium des Londoner Donmar Warehouse, den Theatre Royal Haymarket Writers‘ Award.
Quelle: Rowohlt Theater Verlag, https://www.rowohlt-theaterverlag.de/autor/chris-bush-5548 & Wikipedia, Eintrag „Chris Bush (playright)“, https://en.wikipedia.org/wiki/Chris_Bush_(playwright)
// Das Erzählprinzip: Weggabelungen der Multiversen
Als Weggabelungen werden Geschichten mit alternativen Plotentwicklungen, die nacheinander durchgespielt werden, bezeichnet. Dazu rechnen Przypadek (Der Zufall möglicherweise, Polen 1981, Krzysztof Kieslowski), Lola rennt (BRD 1998, Tom Tykwer), Sliding Doors (USA 1998, Peter Howitt) oder Alain Resnais‘ Doppelfilm Smoking / No Smoking (Frankreich 1993). Gemeinsam ist diesen Filmen, dass hier von verschiedenen möglichen Entwicklungen der gleichen dramatischen Grundkonstellation erzählt wird, die von einem gegebenen Zeitpunkt und einem alltäglichen Ereignis (das Erreichen oder Verpassen eines Zuges, die Entscheidung, mit dem Rauchen aufzuhören oder eben nicht) ihren Ausgang nehmen und zufalls- oder schicksalsgesteuert sind. Doch wo es keine ‚richtigen‘ sondern lediglich alternative, bestenfalls ‚wünschenswerte‘ Plotentwicklungen gibt, kann es auch keine ‚falschen‘ geben. Der Wahrheits- und Geltungsanspruch der Geschichten ist ausgesetzt, wird möglicherweise überlagert von der subjektiven Beurteilung des Geschehens.
Literatur: Bordwell, David: Film futures. In: SubStance 31,1 (=97), 2002, S. 88-104. – Bra-nigan, Edward: Nearly true: Forking plots, forking interpretations. In: SubStance 31,1 (=97), 2002, S. 105-114. – Diffrient, David Scott: Alternate futures, contradictory pasts: Forking pa-ths and cubist narratives in contemporary film. In: Screening the Past, 20, 2006
Quelle: Hartmann, Britta, forking path, Filmlexikon. https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/f:forkingpath-6842
// Der Klimawandel als Hyperobjekt
Hyperobjects: Eine neue Dimension des Zukunftsdenkens
Seit Jahrzehnten ist das Zukunftsdenken geprägt durch Megatrends: dynamische Prozesse des Wandels, die unser Leben langfristig formen. Die Theorie der Hyperobjects eröffnet nun eine radikal andere Art, die Zukunft zu beobachten.
Die Metapher der Maschine
Stellen Sie sich einen Gletscher vor, der schmilzt. Selbst wenn Sie die letzten 30 Jahre jeden Tag auf dem Gletscher verbracht hätten: Sie könnten zwar das Verschwinden der Schneemassen erkennen, nicht aber den gesamten Kontext – den Beginn der Industrialisierung, das enorme Bevölkerungswachstum, die gigantische Zunahme des Verkehrs, den Verbrauch fossiler Brennstoffe, die minimierte Artenvielfalt von Tieren, die fehlende Aufmerksamkeit der Menschen für den Gletscher. Für das Verschwinden der Gletscher sind aber all diese Elemente – und noch viele mehr – mitverantwortlich. Es handelt sich um eine komplexe Verkettung von Wirkungsweisen: Wie eine gigantische, produktive Maschine bringt die globale Erwärmung den Gletscher zum Schmelzen. Die radikalen Vordenker Gilles Deleuze und Félix Guattari haben den Begriff der Maschine verwendet, um produktive Prozesse zu beschreiben, inklusive aller dazu beitragenden Umstände und Elemente. So gehörte zum Bau der Pyramiden von Gizeh auch das Wasser des Nils, die Steigbügel der Pferde, der Papyrus der Pläne oder die Kleider, die die Arbeiter schützten. Nach Deleuze und Guattari sind „Maschinen“ Prozesse und Wirkzusammenhänge, die jeweils eine spezifische und nachhaltige Form der Produktivität und des Outputs – des Produkts – erreichen, so wie die Pyramiden. Auch die Erderwärmung lässt sich als eine effektive Maschine betrachten, deren Spuren man an der Gletscherschmelze erkennt.
Vom Prozess zum Hyperobject
Sich diese Entwicklungen als „Maschinen“ vorzustellen, ist nicht einfach. Um das zu tun, müssen wir unsere normale Denkwelt verlassen und unsere Imagination strapazieren. Ein Versuch: Stellen Sie sich den Moment vor, in dem der erste Gedanke für eine Pyramide entstand, durch einen Pharao, seinen Architekten oder Wesir. Und nun stellen Sie sich die fertigen Pyramiden vor: Nehmen Sie die beiden Enden und halten sie fest. Zoomen Sie räumlich weit genug heraus, um sich alles, was dazwischen stattfand, gleichzeitig darzustellen – jeder kleinste Schritt, das Wasser des Nils, die Steigbügel, der Papyrus. Alles, was jemals geschah, um diese Pyramiden zu bauen. Und das gleichzeitig. Nun lässt sich der Prozess als Spuren eingefrorener Bewegungen wahrnehmen – als Objekt, das alle beteiligten Menschen durchdringt, absorbiert und zu einem Teil davon macht. Wir sind gewissermaßen der Bau der Pyramiden, wir beobachten ihn nicht nur. Ungefähr so, wie Sie mit Ihrem Auto nicht nur im Stau stehen, sondern der Stau sind. Wenn wir Zeit und Raum derart verschieben, dass wir die Verbindungen in konzentrierten Prozessen als ein Objekt wahrnehmen können, erkennen wir die massiven Auswirkungen dieser Vorgänge. Diese ungewohnte Betrachtung nennt der englische Philosoph Timothy Morton „Hyperobjects“: Phänomene, die uns auf eine unheimliche Art vertraut und fremd zugleich sind. So wie die Erderwärmung: Wir sind ein Teil von ihr, und dennoch ist sie uns fremd und fern.
Warum die Zukunft in Objekten denken?
Hyperobjects haben eine dramatische Eigenschaft: Dort, wo sie entstehen, ist der Wandel schon geschehen, bevor er vollzogen ist. Nehmen wir das Beispiel der Erderwärmung: Als Menschen können wir nur die Auswirkungen wahrnehmen und messen – den Schnee zur falschen Zeit, das Schmelzen der Gletscher, die höheren Wasserpegel, den Weinbau im hohen Norden. Irgendwann haben wir gelernt, diese Signale zusammenzudenken, und verstanden: Die Welt wird wärmer, und wahrscheinlich haben wir damit zu tun. Aber wirklich ändern können wir es nicht mehr. Wir können Entwicklungen einleiten, die die Erwärmung verzögern. Wir können uns darauf vorbereiten, in einem anderen Klima zu leben. Aber was wir auch immer tun: Schnell, radikal oder effizient wird nichts davon sein. Die Erderwärmung ist laut Morton das größte Hyperobject unserer Zeit. Es durchdringt uns, verändert uns, hat uns im Griff, ohne dass wir es je als Ganzes zu fassen bekommen. Und ohne dass wir es je für immer und radikal verändern könnten. Hyperobjects sind also effizient und produktiv wie gigantische, ferngesteuerte Maschinen. Sie haben sich festgezurrt auf diesem Planeten und in unserem Leben. Sobald sie sich zu etablieren begonnen haben, sind sie nicht mehr zu verhindern.
Quelle: Gatterer, Harry, Hyperobjects: Eine neue Dimension des Zukunftsdenkens, zu-kunftsInstitut
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/zukunftsreport/hyper-objects/
// Ein selbstkritisches Zeitalter
Das Anthropozän
Mit dem Begriff des »Anthropozän« wird »die menschengemachte Erde« als ein neues Zeitalter beschrieben, das auf eine kritische Selbstreflexion der Menschen angewiesen ist.
I. Begriff
Der Nobelpreisträger Paul Crutzen hat den Begriff des »Anthropozän« in der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert geprägt: Der Mensch ist zu einer geologischen Kraft, zur Naturgewalt geworden. Deshalb gibt er einer neuen Erdzeit seinen Namen: »Anthropozän«.
In diesem begriffsgeschichtlichen Kontext entwickelt Crutzen sein Verständnis des Anthropozän als die »present, in many ways human-dominated, geological epoch, supplementing the Holocene – the warm period of the past 10-12 millennia.«
Wesentlich für diesen Ausweis einer neuen Erdepoche ist nicht die schlichte Tatsache, dass Menschen die Erde seit Jahrtausenden gestalten. Vielmehr sind die Menschen im Anthropozän in ihrer Kultur- und Naturgestaltung selbst zu einer geologischen Kraft geworden. »It is time« – so Crutzen zusammen mit Jacques Grinevald, John McNeill und Will Steffen – »to recognize the Anthropocene as a new epoch in Earth history due to the global-scale of human influence on the environment.« Die Modifikation von biochemischen und Wasserkreisläufen, die unwiederbringliche Vernichtung von Biodiversität, die Veränderung des Weltklimas, die Transformation von Landschaften sowie Genetic Engineering und synthetische Biologie charakterisieren das Anthropozän, das sich nach der Auffassung von Crutzen, Grinevald, McNeill und Steffen in drei Schritten entwickelt hat: Die erste Periode habe mit der Industrialisierung eingesetzt und datiere deshalb von 1800 bis 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei es zu einer Beschleunigung der Entwicklung gekommen und das Anthropozän in eine zweite Phase der »Great Acceleration« eingetreten: Die Explosion der Weltbevölkerung, globale Infrastrukturierung und ökonomische Globalisierung sowie wohlfahrtsgesellschaftliche Konsumeskalation gehen Hand in Hand mit dem Kollaps von Ökosystemen, der Verschwendung von Ressourcen, dem Artensterben und der Erderwärmung. Die dritte Phase des Anthropozän beginne schließlich in unseren Tagen als Periode der »growing awareness of human impact on the environment at the global scale and the first attempts to build global governance systems to manage humanity’s relationship with the Earth System.”
II. Konzept
Diese informelle Ausrufung des Anthropozän ist nicht unangefochten geblieben. Denn »nichts ist riskanter, als die gegenwärtige Epoche zu bestimmen.«
Doch auch für jene, die einen Übergang der Erde in das Anthropozän sehen, stellen sich kritische Fragen: Kann man beispielsweise die Geschichte des Anthropozän nicht auch sehr viel radikaler als in den soeben vorgestellten drei Entwicklungsstufen erzählen? Das Artensterben, die Erderwärmung, die Stoffkreislaufmodifikationen und die Umweltzerstörungen steigen erst nach 1945 steil an. Das zeitliche Zentrum des
Anthropozän ist die zweite Phase der großen Beschleunigung, der »Great Acceleration«, die letztlich von zwei Generationen forciert wurde und wird: den Baby-Boomern und deren Kindern, also den aktuell »herrschenden« Generationen. Und selbst in dieser Akteursperspektive entwickelt die Konturierung des Anthropozän immer noch eine überschießende Innentendenz: Nicht der »Mensch« oder die »Menschheit« sind zu einer erdgeschichtlichen Kraft geworden, sondern die ganz konkreten Menschen, die sich bisher in den Sozial- und Wohlstandsökonomien der OECD-Welt verwöhnt haben und gegenwärtig ihre Transformation in eine globale Mittelklasse erleben oder vielmehr befürchten. Peter Sloterdijk hat – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – von der »lange[n] Kettenreaktion der sekuritären Selbstvergiftung« gesprochen. Eine generationelle, konsumistische, soziale und erst recht postkoloniale Perspektive würde also ganz andere Akzente in der Erzählung der gegenwärtigen Erdentwicklung setzen.
Quelle: Kersten, Jens, Das Anthropozän-Konzept. Kontrakt – Komposition – Konflikt, Nomos Verlag 2014, 15-18.
Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH
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Redaktion Dramaturgie