Der nackte Wahnsinn
Von Michael Frayn
Im englischen Original: Noises Off
Deutsch von Ursula Lyn
Dauer ca. 120 Minuten, inkl. Pause
Aufführungsrechte Hartmann & Stauffacher Verlag, Köln
// BESETZUNG
Dotty (Mrs. Clackett) Eva Brunner
Garry (Roger) Jan Gerrit Brüggemann
Brooke (Vicki) Kai Benno Vos
Frederick (Philip) Hubertus Brandt
Belinda (Flavia) Claudia Sutter
Selsdon (Einbrecher) Max Rohland
Lloyd Dallas, Regisseur David Lukowczyk
Poppy Norton-Taylor Johanna Malecki
Tim Allgood, Inspizient Alexander Wilß
Regie Katharina Kreuzhage / Bühne Ariane Scherpf / Kostüme Britta Langanke / Dramaturgie Dr. Daniel Thierjung / Dramaturgieassistenz Myriam Pechan / Regieassistenz Hannah Wolfhagen & Jessica Zug / Soufflage Hermann Holstein / Inspizienz Robert Häselbarth / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Michael Bröckling / Beleuchtungsmeister Markus Krömer / Einrichtung Licht Marcus Krömer / Programmierung Licht Viviane Wiegers / Betreuung Licht Viviane Wiegers / Ton & Video Till Herrlich-Petry / Requisite Annette Seidel-Rohlf & Sona Ahmadnia / Leitung Kostümabteilung Claudia Schinke / Maske Ulla Bohnebeck & Henriette Masmeier
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Zum Stück
Das Theater zeigt Theater! Eine Schauspielgruppe versucht ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen und natürlich geht‘s drunter und drüber: Eifersüchteleien, klemmende Türen, betrunkene Schauspieler, Requisitenchaos, verlorengegangene Kontaktlinsen und zu guter Letzt Rutschgefahr durch Sardinen. Im turbulenten Chaos dreht sich die Bühne, sodass sich der Trubel auch backstage verfolgen lässt. Dreimal bekommen Sie Varianten des ersten Akts zusehen: zuerst die Generalprobe am Abend vor der Premiere, dann eine der ersten und eine der letzten Vorstellungen. Man wundert sich, wie varianten- und pannenreich ein und dasselbe Theaterstück doch zur Aufführung gebracht werden kann. Was für Schauspielende und Regisseur Albtraum ist, wird für das Publikum zur Komödie.
Der britische Dramatiker Michael Frayn (*1933) schrieb mit dieser Farce sowohl eine große Liebeserklärung an das Theater als auch eine Persiflage auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Mit Slapstick und Witz wird das Leben zum Theater, das aus Auftritten und Abgängen besteht.
FOTO Meinschäfer Fotografie
// Biografie: Michael Frayn
Geboren am 8. September 1933 in London, England. Während des Wehrdienstes bei der Armee wurde Frayn zum militärischen Dolmetscher in der russischen Sprache ausgebildet. 1954 begann er sein Französisch- und Russisch-Studium am Emmanuel College an der Universität Cambridge, wechselte aber nach einem Jahr zur Philosophie (Moral Sciences). Nach dem Abschluss 1957 war er Reporter und Kolumnist für den Manchester Guardian (1957–62) und den Observer (1962–68). Seither ist er als freier Schriftsteller tätig. Er ist ein erfolgreicher Dramatiker und Romanautor. Frayn schrieb unter anderem die Farce „Noises off“ (1982), die 1992 mit Michael Caine und Christopher Reeve unter der Regie von Peter Bogdanovich verfilmt wurde. 1998 erschien „Kopenhagen“, ein Stück über ein Gespräch zwischen den beiden Atomphysikern Niels Bohr und Werner Heisenberg. „Kopenhagen“ wurde ein großer internationaler Erfolg, erhielt unter anderem den Tony Award und den Prix Molière und löste über die Theaterkreise hinaus eine historische Debatte über Heisenbergs Rolle im Nuklearprogramm des Dritten Reichs, dem so genannten Uranprojekt, aus. 2003 folgte mit „Demokratie“ ein Stück über Willy Brandt und die Guillaume-Affäre, für das Frayn nach „Kopenhagen“ erneut mit dem Evening Standard-Preis und dem Critics Circle Award ausgezeichnet wurde. Die deutsche Uraufführung fand am 6. Mai 2004 im Berliner Renaissance-Theater statt. Sein Werk „Afterline“ hatte 2008 im Londoner Nationaltheater Premiere. Das Stück über den Theaterregisseur und Schauspieler Max Reinhardt erfuhr am 18. März 2010 unter dem Titel „Reinhardt“ im Alten Schauspielhaus Stuttgart seine deutsche Erstaufführung. Bekannt ist Michael Frayn darüber hinaus für seine Tschechow-Übersetzungen ins Englische.
Ehrungen (Auswahl):
Somerset Maugham Award (1966), für „The Tin Men“ Hawthornden-Preis (1967), für „The Russian Interpreter“ Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (4. Oktober 2004)[3], für seine Aufarbeitung bedeutender Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte innerhalb seines OEuvres Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Ehrenmitglied der British Academy
Quelle: https://henschel-schauspiel.de/de/person/1612 (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023).
// Theater im Theater
Frayns Stück spielt im Theater, in jedem Akt auf einer anderen fiktiven Bühne. Die Personen sind sechs Schauspieler, ein Regisseur, ein Inspizient und eine Regieassistentin, die alle an der Tourneeplanung der Farce Nothing On beteiligt sind. Im 1. Akt sieht man die Generalprobe, der 2. zeigt eine reguläre Aufführung vom Standpunkt hinter der Bühne aus gesehen, der 3. schließlich ebenfalls eine reguläre Aufführung aus der Normalperspektive von Theaterzuschauern. Das Dramengeschehen gewährt einen Blick hinter die Kulissen auf die Persönlichkeiten der Darsteller und Theaterschaffenden, die in jedem Akt den 1. Akt von der Farce Nothing On unter jeweils veränderten Bedingungen aufführen.
Der 1. und längste Akt macht den Dramenzuschauer mit der Theatergruppe bekannt und mit dem 1. Akt von Nothing On. Schon bald wird deutlich, dass die Theatereinlage die leichte Unterhaltungskomödie parodiert. Nothing On spielt im englischen Landhaus des steuerflüchtigen Schriftstellers Philip Brent, der in Spanien lebt. An ihrem freien Nachmittag will dessen Haushälterin Mrs Clackett eine Fernsehübertragung genießen und dabei ein paar Sardinen verzehren. Doch noch bevor sie es sich gemütlich gemacht hat, finden sich unabhängig voneinander einige überraschende, ungebetene Gäste ein: Roger, Angestellter der Maklerfirma, die das Haus veräußern soll, trifft mit seiner Freundin Vicki ein, die bei der Steuerbehörde tätig ist, um in dem Haus, das er als sein Eigentum angibt, mit ihr allein zu sein. Wenig später treffen die Hausbesitzer Philip und Flavia Brent ein, die auf ihrem Landsitz, wo niemand sie als Steuerflüchtige vermutet, Ruhe und Erholung suchen. Schließlich kommt noch ein Einbrecher dazu, der wie die übrigen Abkömmlinge das Haus an Mrs Clacketts freiem Tag unbewacht glaubt. Von der Situationskomik, die die vertrackte Lage erzeugt, lebt die Schauspieleinlage. Für ihr Gelingen sind verschiedene Gegenstände als exakt zu platzierende Requisiten sowie die zeitlich präzise aufeinander abgestimmten Auftritte und Abgänge der beteiligten Personen entscheidend. Das Bühnenbild, das einen Wohnraum und eine Galerie darüber zeigt, bietet nämlich viele Türen und die Auftritte sind so arrangiert, dass die Personen einander lange nicht begegnen. Doch Verschwinden, Auftauchen oder Ortsveränderungen von Gegenständen – wie Mrs Clacketts Sardinenteller, Taschen oder Kleidungsstücke – stimmt sie bisweilen nachdenklich; auch meint sie manchmal Stimmen gehört zu haben. Als der Einbrecher seine Beute im Wohnzimmer zusammenträgt, erreicht die allgemeine Verwirrung in dieser Hinsicht den Höhepunkt. Sobald das Unvermeidliche geschieht und die Personen einander in die Arme laufen, sorgen Missverständnisse für Komik: Z.B. missdeutet Flavia es, als sie die leichtbekleidete Vicky und Philip, der durch ein unglückliches Zusammenspiel der Ereignisse seine Hose eingebüßt hat, aus dem Bad kommen sieht. Das Durcheinander erreicht seinen Gipfel, als verfrüht ein Scheich eintrifft, der am Kauf des Hauses interessiert ist. Da der Scheich Philip Brent aufs Haar gleicht und Philip sich in ein Betttuch gehüllt hatte, verwechselt man die beiden. Als überraschende Schlußpointe des Aktes erkennt der Einbrecher in Vicki seine verlorene Tochter wieder.
Das Geschehen der Theatereinlage wird also von komischen Zufällen bestimmt und strotzt vor Unwahrscheinlichkeiten. Sie enthält gängige Züge der Boulevardkomödie: überraschendes Entdecken einer verwandtschaftlichen Beziehung,
Doppelgängermotiv, Verwechselung, irrtümlich angenommene Untreue. Charakteristisch ist ferner die Betonung des Sexuellen, das das Denken und Handeln der beiden Paare bestimmt. Schließlich dürfen die Lokalisierung des Schauspiels in besseren Kreisen auf einem abgelegenen Landsitz sowie der Künstlerberuf wenigstens einer Figur als typisch für die leichte Unterhaltungskomödie gelten. Häufung und Übertreibung aller dieser Zutaten machen Nothing On zur Parodie.
Indem sie die Unsinnigkeit des Spielgeschehens bewusst machen, steigern einige Passagen des Rahmens die Parodie noch. Frederick, Darsteller von Philip, sucht nach logischen Erklärungen für die Ereignisse, etwa wenn er sich fragt, warum Philip das Gepäck mit ins Arbeitszimmer nimmt, um seine Post zu lesen, oder wenn er nicht begreift, warum der Scheich gerade ein Doppelgänger Philips ist. Frederick verkennt, dass man derartige Fragen an ein derartiges Stück nicht stellen darf, weil darin alles auf die Situationskomik zugeschnitten ist. Trotz des Zeitdrucks, unter dem sie alle leiden, bieten Schauspieler und Regisseur mit Rücksicht auf Fredericks Sensibilität ihm Erklärungen an, die in ihrer tiefschürfenden Ernsthaftigkeit die Lächerlichkeit noch steigern: für das erste Problem liefert Lloyd eine psychologische Begründung; seine Antwort auf die zweite Frage karikiert die Literaturkritik, indem Lloyd auf eine verlorene Urfassung verweist, die den Grund enthielt.
Das Stück verlangt von den Schauspielern ein exaktes Timing der Auftritte und äußerst präzisen Umgang mit den Requisiten. […]
Die vollständige Pervertierung des eingelegten Stückes entlarvt die Bedeutung von Requisiten, Auf- und Abgängen sehr deutlich und steigert die Parodie auf diese Art von Theater. Auch die Parodie auf die Darsteller setzt sich fort, die immer weniger das Theaterstück darstellen, sondern stattdessen in eigener Person sprechen. Teils suchen sie ihr Aus-der-Rolle-Fallen als Teil der Aufführung zu kaschieren, teils sprechen sie über ihre eigene Ratlosigkeit als Darsteller. Doch im Grunde stellen sie über weite Strecken sich selbst und ihr aktuelles Problem dar. Zwar vermag der eingeweihte Zuschauer Theater- und Dramenebene voneinander zu unterscheiden, doch ist die Ähnlichkeit beider Bereiche unverkennbar: Beide Ebenen werden von demselben Gesetz, nämlich „doors and sardines“ beherrscht und nehmen groteske Formen an, wenn die Theaterfiktion die Darstellerrealität stört (II) oder wenn umgekehrt die Schauspielerwirklichkeit das Theaterspiel beeinträchtigt (III). So bildet Noises Off insgesamt eine wohlmeinende Parodie auf die leichte Unterhaltungskomödie und über die Darstellerebene auf den Theaterbetrieb allgemein.
Als Besonderheit sei erwähnt, dass Frayn dem Drama ein fiktives Programmheft beigibt, in dem er fiktive Kurzbiographien der Mitglieder der Truppe entwirft, die Nothing On aufführt. Damit bezieht er auch diesen Bestandteil einer modernen Theateraufführung in die Parodie ein.
Ein Bühnenpublikum gibt es in diesem Drama nicht: Bei der Probe in I sind die Zuschauer noch imaginär, bei der Aufführung in II ist das fiktive Publikum jenseits der von hinten eingesehenen Theaterbühne zu denken, in III vertritt das echte Dramenpublikum gewissermaßen die fiktiven Zuschauer. Quelle: AUSZUG aus: Karin Schöpflin: Theater im Theater. Formen und Funktionen eines dramatischen Phänomens im Wandel. Frankfurt am Main u.a. 1993, S.219-223.
// Meta-Theater als Katalysator gespielter Komik
Michael Frayn (*1933 in London) arbeitete nach seinem Philosophie-Studium in Cambridge eine Reihe von Jahren als Reporter und Kolumnist bei großen englischen Zeitungen, weiter auch als Übersetzer (hoch geachtet sind seine Tschechow-Übersetzungen, beim Militär hatte er russisch gelernt). Ende der sechziger Jahre wandte er sich dem literarischen Schreiben zu, wurde ein erfolgreicher Romanautor und noch erfolgreicher als Dramatiker. Seine Komödie Noises Off, die 1982 in zwei Londoner Theatern Premiere hatte, wurde dort bis 1986 1.400 Mal gegeben, eroberte die Bühnen weltweit, eine amerikanische Version wurde 1992 verfilmt. Die Kritiker lobten das Stück überschwänglich: als genial konstruiert, ein starkes Argument für die Bedeutung der Farce, eine Wiedergeburt dieses Genres. Andere sahen in dieser Komödie allerdings nur die perfekte Mechanik einer edlen Uhr. In München hat Martin Kušej, der fünf Jahre das Residenztheater geleitet hat, vor seinem Wechsel an das Burgtheater 2019 als Abschiedsinszenierung Noises Off/ Der nackte Wahnsinn auf die Bühne gebracht: als Offenbarung der Lust wie der Angst von Schauspielern und Regisseuren, sich dem immer lauernden Chaos bei der Produktion eines Theaterstücks zu öffnen.
Das Stück entfaltet das Meta-Theater strukturell und gattungspoetisch. […] Das gespielte Stück-im-Stück ist eine Boulevardkomödie, voll Verwirrungen in den Beziehungen der Geschlechter und sich auftürmender Hindernisse für die Figuren, ihr jeweiliges Vorhaben auszuführen. Jeder Versuch, ein Hindernis mit Witz, durch einfallsreiche, dann aber auch wieder panische Reaktionen zu überwinden, führt neue Hindernisse herauf. Das Spielen dieser Farce, die der Gattung entsprechend keine übergreifende Perspektive eröffnet, sei es in sozialer Hinsicht, sei es philosophisch über das Verhältnis der Geschlechter, gerät den Schauspielern faktisch, nicht intentional, selbst wieder zu einer Farce da ihre Befindlichkeiten und ihre Über-Kreuz-Beziehungen, sowie Tücken des Objekts im Umgang mit Requisiten immer neu in ihr Spiel einbrechen.
[…]
Das Stück, das im Spiel-im-Spiel gegeben wird, hat den Titel Nothing On. Der Doppelsinn dieses Ausdrucks verweist auf den Grundvorgang der Komödie. Zum einen bedeutet er ‚nichts anhaben‘ und entsprechend werden – uralte Situationskomik – Männern die Hosen herunterfallen, Frauen in Unterwäsche auftreten, was als Bild für das Anliegen des Gesamtstücks genommen werden kann, die verbergende Oberfläche aufzureißen, das darunter befindliche Unterdrückte und Verdrängte sehen zu lassen; zum andern bedeutet ‚nothing on‘ auch (aktivistisch) ‚nichts vorhaben‘, (passivisch) ‚es liegt nichts an‘, ‚es gibt nicht zu sehen‘ (z.B. ‚on TV tonight‘), womit die gegenläufige Handlung angezeigt wird, andrängendes Unterdrücktes mit einem Mantel der Normalität zuzudecken. So wird diese Farce ein Spiel des Freisetzens und Zudeckens dessen entfalten, was nach den Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs gebändigt werden muss: die immer anarchischen Triebwünsche. Die Komödie, die den Versuch zeigt, die Komödie Nothing On auf die Bühne zu bringen, hat den Titel Noises Off. Das kann den von jedem Theaterbetrieb gefürchteten Zustand anzeigen, dass es auf der Bühne keine Geräusche gibt, also gar nicht gespielt wird. Zugleich ist Noises Off Fachausdruck im Theaterbetrieb, das Signal, dass alle Geräusche hinter der Bühne zu vermeiden sind, da jetzt auf der Bühne gespielt wird. Zwischen den Extremen leerer Bühne und eines Spielens, bei dem die Verhältnisse auf der Bühne und hinter der Bühne nicht mehr geschieden werden wollen oder können, hat sich das Theaterspiel in jeder Aufführung sein Spielfeld immer neu zu schaffen. In Frayns Komödie Noises Off machen sich die ‚Hintergrundgeräusche‘ der Schauspieler, Artikulationen ihrer Befindlichkeiten, ihrer Emotionen, ihres Abgelenkt-Seins vom Spiel immer stärker bemerkbar, hinter der Bühne, zunehmend auch auf das Spiel auf der Bühne übergreifend, konstruktiv im Versuch, Lücken im Spielablauf improvisierend zu überspielen, destruktiv im Behindern des Spiels anderer. […]
Performativität – dass das Spielen vollzieht, was es vorstellt – bestimmt derart nicht nur den Bezug zwischen gespieltem Spiel-im-Spiel (Nothing On) und dessen gespielter Vorstellung, sondern auch den Bezug zwischen gespieltem und realem Spielen in realen Aufführungen der Komödie Noises Off. Komödie, derart zentriert in absolutem Spiel, erhält in Frayns Stück ihren Halt durch das Verfahren meta-theatralischer Vervielfältigung, aber mit dem neuen Akzent, dass es die Performativität des Theaterspielens auf all seinen Spielebenen ist, die diesen Halt gibt, einen festen Grund, auf dem bestimmt werden kann, dass alles Spiel ist, ohne ein Jenseits zu diesem ansetzen zu müssen.
Quelle: AUSZUG aus: Bernhard Greiner: Meta-Theater als Katalysator gespielter Komik: Eduardo De Filippo (L’arte della comedia / Die Kunst der Komödie) – Michael Frayn (Noises Off / Der nackte Wahnsinn) – Thomas Bernhard (Der Theatermacher), S.21-25.
// Theaterregisseur: „Wer als Schauspielerin Avancen abweist, geht ein Risiko ein“
Susanne Lenz | 22.03.2021
Nach dem Fall Dörr: Was sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch angeht, ist das Theater ein besonders gefährdeter Raum. Zwei Regisseure erklären, warum.
Berlin – Eine Woche her ist es nun, dass Klaus Dörr als Intendant der Volksbühne zurückgetreten ist. Sein Name ist von der Website des Theaters verschwunden, der Aufklärungsprozess hinsichtlich der Vorwürfe von zehn Frauen, Dörr sei sexuell übergriffig gewesen und habe eine Schauspielerin wegen ihres Alters diskriminiert, geht weiter. Der Vorgang hat erneut ein grelles Licht darauf geworfen, welch ein gefährdeter Raum das Theater ist, was den Missbrauch von Macht angeht. Gründe hierfür sind die hierarchische Struktur, die Abhängigkeitsverhältnisse, die daraus resultieren, und das Geschlechterverhältnis. In Deutschland sind 80 Prozent der Intendanten und 70 Prozent der Regisseure Männer, 85 Prozent derjenigen, die sich hilfesuchend an Themis, die Berliner Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt, wenden, sind Frauen. Auch die zehn von der Volksbühne haben sich dorthin gewandt.
Ein weiterer Grund, der das Theater für Übergriffe so anfällig macht, liegt im Theatermachen selbst. „Das Verschwimmen der Grenze zwischen Privatem und Arbeit ist eines der Standbeine des Theaters“, sagt Christoph Gosepath (59) der Berliner Theaterregisseur und Leiter der Künstlergruppe Club Tipping Point, der gleichzeitig als Psychiater und Psychotherapeut arbeitet. Das bestätigt auch der Theater- und Opernregisseur Bernd Mottl (55), der in Berlin im Tipi „Frau Luna“ inszeniert hat und zuletzt am Staatstheater Wiesbaden die Oper „Anna Nicole“, auch er ein Mann, der das System seit Jahrzehnten von innen kennt. „Theater hat mit Öffnung zu tun, damit, sich zu zeigen. Deshalb redet man auf Proben schnell über Intimes. Das Senken der Hemmschwelle ist Programm“, sagt er.
Auch die 2020 veröffentlichte Interviewstudie von Themis ist erhellend. Die Interviews wurden mit 16 in der Film-, Fernseh- und Bühnenbranche tätigen Personen geführt, 14 Frauen, zwei Männern. Was den Arbeitsalltag angeht, sagte eine oder einer der Interviewten, die sämtlich anonym bleiben, „dass wir immer mit unserem Wesen und unserem Kör-per, aber auch unserer Seele sehr präsent sein müssen. (…) Das bringt quasi der Beruf mit sich, das ist ja klar. Aber dadurch entblößen wir uns auch.“ – „Und das Vermischen der Ebenen. (….) Man geht was trinken, man unterhält sich, man erfährt viel übereinander. Man hat ja eigentlich gar kein normales Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis, wie wenn man im Büro E-Mails schreibt und sich Hallo sagt.“
„Die Arbeit des Regisseurs hat einen voyeuristischen Aspekt“
Christoph M. Gosepath sagt über das Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspieler: „Schauspieler spielen die ganze Zeit mit ihrem Körper, nicht aber der Regisseur. Der sitzt unten im dunklen Zuschauerraum und schaut zu. Seine Arbeit hat einen voyeuristischen Aspekt. Da passiert eine Menge, was die Fantasie erregt.“ Fritz Kortner habe zu Peter Stein gesagt, als dieser sein Regieassistent war: „Stein, Sie sind in die Schauspielerin verliebt.“ Und als Stein verneinte: „Sie wissen es bloß noch nicht.“ Dass ein Regisseur sich in eine Schauspielerin verliebt, passiere häufig, sagt Gosepath. „Dabei das Machtgefälle auszunutzen, geht natürlich gar nicht. Aber es ist ein schwieriger Grenzbereich.“
Die Arbeit im Kulturbereich ist stark von Abhängigkeit geprägt, die Konkurrenz ist groß, viel läuft auf der Basis persönlicher Empfehlungen oder Verbindungen. Ein Zitat aus der Interviewstudie: „Premierenfeiern, private Geburtstage, auf denen über die Arbeit gesprochen wird und wo auch der Intendant ist oder ein Regisseur. Da merke ich, jetzt ist hier vielleicht mein privater Raum, aber solche Gegenüber haben die Macht. Vor allem eben diese künstlerische Macht, dass der entscheidet, was mein Arbeitsinhalt ist. Ob ich in ‘ner Produktion, banal gesagt, der Baum XY bin oder die Hauptrolle. (…) Und deshalb, wenn der sich mit mir unterhalten will, dann unterhalte ich mich mit dem. Und wenn nicht und ich früher gehe, dann frage ich mich, ob das jetzt okay war.“
Bernd Mottl sagt zu diesem Abhängigkeitsverhältnis: „Arschlöcher gibt es leider überall, aber die Kunst ist vielleicht ein besonders gefährdeter Bereich, weil hier so gut wie keine belegbaren Qualitätsmaßstäbe existieren. Dadurch gibt es Vorgesetzte, die sagen können: Allein weil ich deine künstlerische Befähigung erkenne, kriegst du den Job. So etwas öffnet Tür und Tor für Unterschwelliges. Manche Schauspieler versuchen es deshalb mit Anbiederung, Regisseure übrigens gelegentlich auch.“ Wie er selbst auf Anbiederung reagiert? „Manchmal denke ich, der/die hat es nötig. Manchmal streichelt es mein Ego, dann ignoriert man die Abhängigkeit. Letztlich muss sich jeder selbst auf die Finger hauen. Ich glaube, ich verfüge über ein sensibles Frühwarnsystem.“
In der Themis-Studie wird, was sexuelle Übergriffigkeit angeht, am häufigsten von körperlichen Grenzüberschreitungen berichtet: Sexualisierte Berührungen und Küssen, ohne dass die Betroffenen einverstanden waren, aber auch schroffes Anpacken bis hin zu Körperverletzung. Ein anonymes Zitat: „Und er hat nie gefragt, ob er die Frauen umarmen darf. Also es war einfach immer so klar, o.k., das mach ich. Und er hat mich so umarmt und hat dann seine Hände unter mein T-Shirt geschoben und hat dann so zugegrabscht.“ Bernd Mottl hat selbst auch Erfahrungen mit Übergriffigkeit gemacht: „Als ich Regieassistent war, hat ein Regisseur vehement versucht, mich zu verführen. Es hat mich viel Kraft gekostet, das abzulehnen. Unsere Arbeitsbeziehung war dann beendet. Gottlob fand ich ihn aber auch künstlerisch nicht mehr so doll.“
Mottl glaubt, einen guten Intendanten könne man auch daran erkennen, dass sein Spielplan divers ist, also dass viele unterschiedliche ästhetische Sprachen zu Wort kommen. Darin seien Frauen meist besser. „Was ich überhaupt nicht begreife: Theater wirbt um nichts so sehr wie um Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Empathie. Dass ausgerechnet hier so ein feudales Gehabe herrscht, hieße ja, dass der aufklärerische Sinn dieser Kunst-form reines Lippenbekenntnis ist. Und so ist es leider meist.“
Die Grauzone macht es schwer, sexuelle Belästigung als solche zu erkennen
Was an der Interviewstudie von Themis am meisten schockiert: Die häufigste Reaktion der Befragten auf Grenzüberschreitung im Arbeitssetting ist resignierte Akzeptanz. Als Gründe wurden berufsbezogener Idealismus genannt und dass man von der eigenen Arbeit oder dem Projekt eben überzeugt gewesen sei. Grenzüberschreitungen als offenbar unvermeidbare Kehrseite von Kreativität und Intensität – eine Grauzone, die sexuelle Belästigung mehr als nur begünstigt. Die Präventionsseminare, die Themis anbietet, können hier helfen.
Die Vertrauensstelle Themis gibt es seit zweieinhalb Jahren, aber es hat in der gesamten Zeit nur 14 Beschwerdeverfahren gegeben, wie Vorstandsmitglied Eva Hubert sagt. „Die allermeisten wollen keine Beschwerde gegen den Arbeitgeber richten, weil sie Angst haben, dann keine weiteren Rollen mehr zu bekommen oder dass sie auch als Regieassistentin oder Maskenbildnerin verbrannt sind, weil sie als schwierig empfunden werden. Die Branche ist ja nicht besonders groß.“
„Ich möchte eigentlich das Recht haben, eine Schauspielerin zu fragen, ob sie mit mir schlafen will.“
Auch Christoph M. Gosepath sieht dieses Problem: „Ich möchte eigentlich das Recht haben, eine Schauspielerin zu fragen, ob sie Bock hat, mit mir zu schlafen, und wenn sie Nein sagt, dann ist das natürlich okay. Aber wer als Schauspielerin oder Schauspieler in den gegenwärtigen Machtstrukturen heute Avancen abweist, geht ein Risiko ein. Das ist der kritische Punkt: Er oder sie sagt vielleicht Ja, weil die Angst besteht, sonst nicht weiterarbeiten zu können. Es ist in der Machtstruktur angelegt, dass er oder sie so etwas denken kann oder vielleicht sogar muss. Darin liegt die Berechtigung des wichtigen heutigen Fegefeuers.“ In der Psychotherapie sei es ähnlich. Auch der Therapeut sei ein Voyeur, er gebe nichts von sich preis, die Patientin oder der Patient indessen sehr viel. „Es passiert zuweilen, dass sich ein Therapeut in eine Patientin verliebt. Die Radikallösung ist dann, die Beziehung abzubrechen. Oder der Therapeut begibt sich in Supervision, um sein Begehren abzuarbeiten, ohne seine Macht zu missbrauchen.“
Eva Hubert sieht folgenden Ausweg: „Es muss ein Klima geben, in dem es selbstverständlich ist, dass man sich beschwert, und in dem der Arbeitgeber verpflichtet ist, der Beschwerde nachzugehen. Aber das funktioniert nur mit einer ausreichenden Anzahl von Männern und Frauen, die bereit sind, diesen Weg zu gehen.“
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/theater/volksbuehne-doerr-wer-im-theater-avancen-abweist-geht-ein-risiko-li.147221 (zuletzt aufgerufen am 25.08.2023).