Der Schiffbruch der Fregatte Medusa
von Alexander Eisenach
Premiere Samstag, 13.01.2024 / 19:30 Uhr im Studio
Dauer ca. 90 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Hamburg
THEATER PADERBORN Der Schiffbruch der Fregatte Medusa
von Alexander Eisenach
Premiere Samstag, 13.01.2024 / 19:30 Uhr im Studio
Dauer ca. 90 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Hamburg
FOTO Meinschäfer Fotografie
// BESETZUNG
Monsieur Corréard Hubertus Brandt
Gouverneur Schmalz Jan Gerrit Brüggemann
Kapitän Chaumarey Gregor Weisgerber
Antoine Richefort Claudia Sutter
Matrose Kai Benno Vos
Matrose und Arzt Alexander Wilß
Zeitreisende Johanna Malecki
Regie Katharina Kreuzhage / Bühne Ariane Scherpf / Video, Sounddesign & Kostüme Valerij Lisac / Choreografische Mitarbeit Nwarin Gad / Dramaturgie Lena Kern / Regieassistenz Hannah Wolfhagen / Regiehospitanz Christina Ferraro / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Michael Bröckling / Beleuchtungsmeister Marcus Krömer / Einrichtung Licht Fabian Cornelsen / Programmierung Licht Georg Rolle / Betreuung Licht Georg Rolle & Laurin Steinhoff / Ton & Video Sven Belzer / Requisite Annette Seidel-Rohlf & Sona Ahmadnia / Leitung Kostümabteilung Claudia Schinke / Maske Ulla Bohnebeck & Henriette Masmeier
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Inhalt
Ein Schiffsunglück. 150 Menschen zimmern notdürftig ein Floß zusammen, um zu überleben. Die vorhandenen Rettungsboote hat natürlich die Führungselite bereits besetzt und ist eiskalt davon gesegelt. Auf dem Floß gilt nunmehr das Recht des Stärkeren. Wer zu schwach ist, wird zum Essen für die anderen. 15 Menschen überleben am Ende. Das ist nicht nur Ausgangspunkt dieses Theaterabends, sondern traurige Realität, die sich am 2. Juli 1816 vor der Küste Westafrikas abspielte. Die Medusa war ein französisches Flaggschiff, das zum Ziel der Kolonisierung unterwegs war. Das historische Ereignis wird zur Metapher und aus der Fregatte eine Yacht und aus der Yacht ein Raumschiff. Zeit und Ort verschwimmen und verdichten sich zum Menschheitsproblem, das nach Gerechtigkeit und Solidarität im Heute fragt.
Alexander Eisenach (*1984) ist spätestens seit 2016 durch die Auszeichnung des Kurt-Hübner-Regiepreises als Regisseur und Autor auf den deutschen und österreichischen Bühnen kein Unbekannter mehr. „Der Schiffbruch der Fregatte Medusa“ war ein Auftragswerk für das Münchner Residenztheater und feierte dort 2022 Uraufführung.
// Alexander Eisenach
Alexander Eisenach, geboren 1984 in Berlin, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig und Paris. Er war Regieassistent am Centraltheater Leipzig und 2013/2014 Mitglied des Regiestudios am Schauspiel Frankfurt. Seit 2014 arbeitet er als freier Regisseur, u.a. am Schauspiel Hannover, am Schauspiel Graz, am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Deutschen Theater Berlin. 2014 wurde sein erstes Theaterstück „Das Leben des Joyless Pleasure“ am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. 2015/16 nahm Eisenach dort am Autorenstudio teil. Für seine Inszenierung „Der kalte Hauch des Geldes“ wurde er mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis 2016 ausgezeichnet. Zwischen 2016 und 2019 war Eisenach Hausregisseur am Schauspiel Hannover unter der Intendanz von Lars-Ole Warburg. Am Schauspielhaus Graz inszenierte er 2019 „Vernon Subutext“ nach Virginie Despentes und eröffnete mit der Inszenierung „Felix Krull“ die Spielzeit im Großen Haus am Berliner Ensemble. 2019/2020 entstand unter seiner Regie während der Pandemie an der Volksbühne Berlin sein Stück „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“, dessen Fortschreibung „Anthropos, Antigone“ nun am Staatstheater Kassel 2022/2023 zu sehen sein wird.
Quelle: https://www.berliner-ensemble.de/alexander-eisenach und https://www.staatstheater-kassel.de/person/2602 (zuletzt abgerufen am 18.12.2023)
// Sinnbild für das Scheitern der menschlichen Zivilisation
Der Untergang der französischen Fregatte Medusa im Juli 1816 wurde zu einem Skandal, der ganz Europa erregte und einen modernen Mythos schuf. 15 von 150 Seeleuten überlebten auf einem Floß, weil sie sich von Menschenfleisch ernährten. Dem jungen Maler Théodore Géricault gelang mit der Darstellung der Tragödie der Durchbruch.
Das Gemälde „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault im Louvre in Paris (dpa/ Andreas Gebert)
„Am 17. Juli 1816, vor sieben Uhr morgens, sichtete die Brigg Argus das Floß der Medusa“, heißt es in Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Das Stück erzählt von einer realen Schiffskatastrophe im Juli 1816: Mit rund 400 Menschen an Bord strandete die Fregatte La Méduse auf einer Sandbank vor der Küste Mauretaniens. Sie sollte Beamte, Soldaten und Siedler nach Afrika bringen, denn nach Napoleons Sturz und der Wiederherstellung der Bourbonen-Monarchie hatte Frankreich seine von den Briten besetzte Kolonie am Senegal-Fluss zurückerhalten. Weil die Beiboote nicht für alle reichten, bestiegen etwa 150 Männer und eine Frau ein improvisiertes Floß. „Das Floß stand wenigstens einen Meter unter Wasser; wir waren so aneinandergepreßt, daß keiner einen Schritt tun konnte.“ So beschreibt es der Schiffsarzt Henri Savigny.
13 Tage ohne Lebensmittel auf dem Meer
Die Boote sollten das Floß an die Küste schleppen, doch stattdessen kappte ein Offizier das Verbindungsseil. 13 Tage trieben die Menschen daraufhin hilflos auf dem Meer, ohne Lebensmittel, ohne Wasser, nur mit einigen Fässern Wein. „Am 17. Juli morgens schien der Himmel ganz heiter“, berichtet Schiffsarzt Savigny. „Wir verteilten etwas von unserm Wein, als ein Offizier plötzlich ein Schiff am Horizont entdeckte und es uns mit lautem Freudengeschrei ankündigte. Indes mischte sich doch Furcht in unsere Hoffnung; einige glaubten, das Schiff sich allmählich nähern zu sehen; andere versicherten, es triebe auf offene See. Die Brigg verschwand. Aus dem Taumel der Freude versanken wir in die tiefste Niedergeschlagenheit.“
Doch das Schiff hatte sie entdeckt und kam zu ihrer Rettung. „Ich fand 15 Menschen auf diesem Floß. Diese Unglücklichen hatten sich von Menschenfleisch ernährt, und die Seile, die den Mast hielten, waren bedeckt mit Stücken dieses Fleisches, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten.“ So berichtete es der Kapitän. 15 von 150. In wütenden Kämpfen hatten sich die Männer gegenseitig massakriert, viele waren ins Meer gerissen worden oder aus Verzweiflung hineingesprungen. Am Ende hatten die Stärksten die Sterbenden ins Wasser geworfen. In Frankreich entfachten die Nachrichten vom Untergang der Méduse und dem Horrorfloß einen Skandal, der das Land erschütterte.
Symbol für die Übel der Restauration
„All die eingebildeten Schrecken unserer Melodramen und Tragödien sind nichts, verglichen mit den wirklichen Schrecken dieser Katastrophe“, schrieb eine Zeitschrift. Schuld daran war das Versagen des Kapitäns, der unter Ludwig XVI. gedient und seit der Revolution kein Schiff mehr geführt hatte. Der Marineminister hatte hunderte napoleonische Offiziere entlassen und durch aristokratische Veteranen des Ancien Régime ersetzt. Frankreich war tief zerrissen zwischen radikalen Royalisten auf der einen und Bonapartisten und Liberalen auf der anderen Seite. Die Berichte des Schiffsarztes Savigny und des Ingenieurs Alexandre Corréard wurden Bestseller, der Schiffbruch der Méduse zum Symbol für die Übel der Restauration. Er führte zum Sturz des Marineministers und zur Massenentlassung seiner Protegés.
Théodore Géricaults Gemälde
In der Pariser Kunstausstellung 1819 stand das Publikum schockiert vor einem monumentalen, düsteren Gemälde: Auf einem Floß in aufgewühlter See türmen sich ineinander verschlungen Menschenleiber, Tote, Lebende und zerstückelte Leichenteile. Wer noch die Kraft hat, winkt verzweifelt nach einem Schiff, winzig klein am Horizont. In der Bildsprache der heroischen Historienmalerei schilderte der junge Théodore Géricault die Szene auf dem Floß der Méduse am Morgen des 17. Juli 1816. Nichts Erhabenes, keine Heldengröße, sondern Zeitgenossen, die ihr Überleben einem skandalösen Zivilisationsbruch verdanken.
„Was für ein abscheulicher Anblick, aber was für ein wundervolles Bild“, schrieb ein Betrachter. Géricaults Bild ist heute einer der berühmtesten Schätze des Louvre. Das Floß der Medusa mit seiner Geschichte von Verrat, Gewalt, Verzweiflung und Überlebenswillen ist zum vielschichtigen Mythos geworden.
Quelle: Rückert, Ulrike: Sinnbild für das Scheitern der menschlichen Zivilisation. In: Deutschlandfunk Kultur, 17.07.2016. https://www.deutschlandfunk.de/schiffbruch-der-medusa-sinnbild-fuer-das-scheitern-der-100.html (zuletzt aufgerufen am 18.12.2023)
// Die dunkle Seite der Zivilisation.
Der Autor und Regisseur Alexander Eisenach im Gespräch aus dem Programmheft der Uraufführung (14.05.2022) am Residenztheater München.
Frage: Die Basis für deinen Abend über den Schiffbruch der Fregatte Medusa ist der gleichnamige Bericht von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Correard aus dem Jahr 1818. Die beiden beschreiben darin die Ereignisse, die zur Havarie des Schiffes führten und auch den darauffolgenden Überlebenskampf der 150 Menschen auf dem Rettungsfloß, von denen nur fünfzehn am Leben blieben. Worin liegt für dich der besondere Reiz, ein Stück über ein Schiffsunglück und seine Folgen zu machen?
Eisenach: Herausfordernd war zunächst einmal der Gedanke dieser klaustrophobischen Floßsituation. Was passiert zwischen 150 Menschen, die auf einem engen Rettungsfloß zusammengepfercht sind? Dazu kommt, dass sich in dem Überlebenskampf zwischen den auf dem Floß ausgesetzten Menschen, diesem «Alle-gegen-alle», parabelhaft ein gewisser Zeitgeist widerspiegelt. Weiter ist da auch das Thema des Kannibalismus, das ja eng mit dem Unglück der Medusa verknüpft ist und das in sehr unterschiedliche Richtungen codierbar ist. Und schließlich knüpfen sich an die ganze Geschichte noch eine Reihe weiterer Themen an, wie die Französische Revolution, der Abenteuergeist und das Entdeckertum des 19. Jahrhunderts, die ich als Folien für Theater alle extrem spannend und reizvoll finde. Es macht ja auch Spaß, mit solchen Genres zu spielen.
F: In diese Geschichte spielen tatsächlich sehr viele Themen mit hinein. Den Kannibalismus hast du bereits angesprochen, aber ebenso gehört auch der Kolonialismus dazu, die kapitalistische Ausbeutung des afrikanischen Kontinents und der Kampf um Ressourcen. Inwiefern spielen diese Themen in deiner Inszenierung eine Rolle?
E: Die Parallele, die man zwischen Kannibalismus und Kolonialismus ziehen kann, ist sehr offensichtlich. Es kommt ja überhaupt erst zu dieser Schiffskatastrophe, weil Frankreich den Senegal von den Engländern als Kolonie zurückerhält. Und der Kolonialismus im frühen 19. Jahrhundert war gleichbedeutend mit der schonungslosen Ausbeutung eines ganzen Kontinents, die keinerlei Rücksichtnahme kannte, schon gar nicht auf menschliches Leben. Es war eine brutale «Vernutzung» von Leben, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Dies alles aber geschah unter dem humanistischen Deckmantel, den afrikanischen Kontinent zu «zivilisieren» und den Menschen dort die eigene, europäische Kultur aufzuzwingen. Gleichzeitig aber bestimmte in Europa die Aufklärung das Denken, wurde die Befreiung des Menschen aus den feudalistischen Herrschaftsstrukturen propagiert und von Voltaire die Grundlage für die universellen Menschenrechte gelegt. Und dieses aufklärerische Denken und Handeln führte man am anderen Ende der Welt ad absurdum und sprach den Menschen in den eroberten Kolonien jede Menschenwürde ab. Für sich selbst nahm man in Anspruch, Vertreter einer
höheren Zivilisation zu sein und erklärte im Gegenzug die in anderen Teilen der Welt entdeckten indigenen Völker kurzerhand zu Kannibalen. Tatsächlich aber verhielten sich die Eroberer und Kolonialherren selbst wie Kannibalen, die sich die anderen Kulturen und Ökonomien regelrecht einverleibten.
F: So betrachtet ist der Kannibalismus ein Symptom für expandierende Gesellschaften und eine Metapher für politisches Handeln?
E: Ja, das kann man so formulieren. Auf jeden Fall für eine Gesellschaft, damals genauso wie heute, die nur das Aufbrauchen und das Aufzehren kennt. Hier spielt dann auch auf einer anderen Ebene der Schiffbruch hinein: Wir sind uns ja alle der Endlichkeit natürlicher Ressourcen bewusst, trotzdem steuern wir, um im Bild zu bleiben, als Weltgemeinschaft gerade wissentlich auf eine Sandbank zu. Wir kennen eigentlich die Handgriffe und Werkzeuge, die diese Kollision verhindern könnten, aber das exzessive Besitzdenken, das Immer-mehr-haben-wollen, Immer-noch-mehr-produzieren-müssen, führt zu einer Form der Beschleunigung, die einen Crash eigentlich unvermeidlich macht.
F: Kannibalismus ist ja eines der ganz großen zivilisatorischen Tabus, weil es als zutiefst unmenschliches Verhalten gilt. Für die Menschen auf dem Floß scheint das keine große Abschreckung gehabt zu haben, denn nach nur vier Tagen wurde das Tabu bereits gebrochen. Wie würdest du diese Grenzüberschreitung erklären?
E: Das finde ich schwierig zu beantworten. Kämpft der Mensch in Extremsituationen nur für sich und sein Überleben, oder ist er in der Lage, sich trotz aller Bedrohung von Leib und Leben solidarisch zu verhalten und zu erkennen, dass er nur in der Gemeinschaft eine echte Überlebenschance hat? Die Frage ist also, ob der Mensch in seinem Kern eher altruistisch oder egoistisch ist. Oder anders formuliert: Ist der Mensch in seinem Naturzustand gut oder schlecht, und ist es am Ende die Gesellschaft, die ihn zivilisiert beziehungsweise degeneriert? Das sind die Fragen, die mich in dem Stück bewegen und die wir auch thematisieren, denn ich bin gar nicht so sicher, ob es darauf eine eindeutige Antwort gibt. Im konkreten Fall würde ich sagen, dass sich die Menschen deshalb so extrem verhalten, weil sie aus einer politischen Gemengelage kommen, die mit sehr vielen Konflikten aufgeladen ist – die gescheiterte Revolution, die Restauration, die Napoleonischen Kriege usw. Es gab also Verwerfungen unter der Schiffsbesatzung, zwischen Royalisten und Bonapartisten, die diese Eskalation nach nur vier Tagen überhaupt erst ermöglichten. Vergessen darf man dabei aber auch nicht die Tatsache, dass in der französischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts bereits frühkapitalistische, extrem ausbeuterische Strukturen vorherrschten und dass es sich dabei um eine ausgeprägte Klassengesellschaft handelte.
F: Wenn ich deine Ausführungen etwas zuspitze, dann könnte man sogar soweit gehen zu sagen, auf diesem Floß wende sich der Kapitalismus in Form des Kannibalismus gegen sich selbst. Die frühkapitalistische Gesellschaft frisst
sich selbst, weil die Einzelnen allein im «Jeder-gegen-jeden» ihr Heil und damit ihr Überleben suchen?
E: Ja, das könnte man daraus ableiten, weil das Grundprinzip auf Kampf ausgelegt ist. Es gibt in der Zivilisations- und Entwicklungsgeschichte immer einen Dualismus, der einerseits besagt, dass der Fortschritt uns aus unserem wilden, barbarischen und brutalen Urzustand befreit. Tatsächlich aber, und das ist die andere Seite, werden wir davon nicht befreit, sondern führen diesen Urzustand weiter mit uns und er wird durch den Fortschritt mitunter noch befördert. Wenn etwas Unmenschliches passiert, wie der Kannibalismus auf dem Floß der Medusa, so fällt dieser nicht aus dem vermeintlich zivilisatorischen Rahmen, sondern solche Geschehnisse sind Teil des Zivilisationsprozesses. Sie untergraben ihn nicht, sondern sind seine dunkle Seite. Mit anderen Worten: Das Zivilisatorische trägt immer auch das Antizivilisatorische, das Zerstörerische in sich. Nur wir staunen dann immer wieder, wenn es zu solchen Ausbrüchen kommt, sind dann darüber schockiert und fühlen uns gleich ins Mittelalter zurückversetzt. Aber vielleicht spiegelt sich in diesem Verhalten auch das eigentlich Menschliche wider, von dem wir vorhin sprachen. Es gab ja auch in der Geschichte genügend gesellschaftliche Projekte, die versucht haben, den Menschen anders zu formen. Die meisten davon sind allerdings gescheitert.
F: Man kann dieses Bild von der Zivilisation und ihrer immanent destruktiven Kraft auch auf die Klimakatastrophe ausweiten. Der amerikanische Philosoph Timothy Morton hat es so formuliert: «Das Ende der Welt ist bereits eingetreten. Wir können das Datum, an dem die Welt unterging, auch auf unheimliche Art genau bestimmen. Im April 1784 ließ James Watt die Dampfmaschine patentieren, ein Akt, der die Ablagerung von Kohlenstoff in der Erdkruste einleitete – also der Beginn der Menschheit als geophysikalische Kraft auf planetarischer Ebene.»
E: Darin spiegelt sich die Theorie des Anthropozäns wider, in der dem Menschen eine zerstörerische Wirkkraft auf den Planeten zugeschrieben wird, die mit der Plattentektonik vergleichbar ist. Wenn man sich zum Beispiel überlegt, wie viele Millionen Jahre es gedauert hat, bis aus Kohlenstoff letztlich Erdöl entstehen konnte, und in wie vielen Millisekunden wir dieses dann durch unsere Tanks jagen, um mal kurz irgendwo hinzufahren, dann wird die Unverhältnismäßigkeit besonders augenfällig. Spannend ist, dass einen das auch wieder zu dem Bericht von Savigny zurückführt. Bei ihm spiegelt sich die damals gängige Geisteshaltung wider, die die indigene Bevölkerung der Kolonien als bloße Ressource betrachtet, die nur deshalb existiert, um «genommen» und «verbraucht» zu werden. Bis in die Neuzeit hinein herrschte ja die gängige Überzeugung vor, die Natur sei dazu da, dass man sich an ihr bedient. Das Bewusstsein darüber, dass die Ressourcen und auch das Wachstum auf der Erde endlich sein könnten, setzte ja erst in den 1970er- Jahren mit der Wachstumsstudie des Club of Rome ein. Erst seither hat sich langsam ein Paradigmenwechsel im Denken etabliert, dass man sich von diesen kannibalisch-ausbeuterischen Praktiken abwendet. Aber machen wir uns nichts vor, wir profitieren auch heute noch von den kolonialen Strukturen, die im 19. Jahrhundert eingeführt wurden und die bis heute nachwirken.
F: Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass man die Ereignisse auf dem Schiff und dem Floß auch als Metapher lesen kann. Auch aus diesem Grund hast du dich entschieden, den Stoff neben der historischen, auch noch auf zwei weiteren Zeitebenen zu erzählen. Warum?
E: Es interessiert mich nicht so sehr, einen historischen Fakt in seiner Abgeschlossenheit auf dem Theater nachzuerzählen, sondern ich möchte ihn in ein Verhältnis setzen. Für mich macht Geschichte nur dann Sinn, wenn wir sie in Beziehung zu einer anderen Zeit setzen. Zu unser eigenen vor allen Dingen und deshalb ist auch eine der Zeitebenen unseres Abends die Gegenwart bzw. die nahe Zukunft, in der sich eine neue Adelskaste in Gestalt von Milliardären und Oligarchen gebildet hat. Menschen, die aufgrund ihres wirtschaftlichen Erfolges sehr viel soziale und politische Macht haben und sich bereits jetzt auf eine Zeit vorbereiten, in der die Welt in Folge von Naturkatastrophen, Desertifikation, Überschwemmungen, Migrationsbewegungen in vielen Teilen nicht mehr bewohnbar sein wird. Leute wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg haben bereits in Neuseeland oder auf Hawaii oder anderswo massenhaft Land aufgekauft, um dort komplett autarke Refugien für sich und ihresgleichen zu errichten. Und diesen Exodus der Eliten habe ich in ein Verhältnis gesetzt zu dem Fall der Medusa, wo sich ja auch der Gouverneur, die Vertreter des Adels und auch die meisten Offiziere in Rettungsbooten davonmachen und den Rest der Mannschaft auf dem Floß ihrem Schicksal überlassen. Es gibt bei Savigny ja auch den Satz, dass die Menschen auf dem Floß noch als letztes von den Rettungsbooten hörten: «Lasst sie einfach hier».
Die dritte Zeitebene spielt dann in einer noch ferneren Zukunft, in der sich die Menschen auf die Suche nach einer alternativen Erde machen, weil unser Planet mittlerweile unbewohnbar geworden ist. Ein Raumschiff ist also auf dem Weg zu einer neuen Kolonie und erleidet ebenfalls Schiffbruch. Meine Idee ist, unsere Gegenwart in einer fernen Zukunft weiterzudenken – vielleicht ist sie sogar eine bessere – und von dort aus in die Vergangenheit und damit auf uns jetzt zurückzuschauen. Die eigene Gegenwart als Vergangenheit zu betrachten, finde ich einen ziemlich reizvollen Gedanken.
F: Der englische Politikwissenschaftler Timothy Mitchell behauptet in seinem Buch «Carbon Democracy», dass fossile Brennstoffe die moderne Demokratie überhaupt erst ermöglichen, sie aber gleichzeitig auch einschränken. Als Bühnenbild habt ihr euch eine havarierte Bohrplattform ausgedacht. Stand dahinter auch der Gedanke, einen Ort zu wählen, der symbolisch für Wohlstand und Fortschritt, andererseits aber auch für Ausbeutung und Umweltzerstörung steht?
E: Unsere Überlegung war, wenn man die Schiffshavarie der Medusa in eine andere Zeit überträgt, dann sollte dieser Ort symbolhaft für eine Welt stehen, deren gesellschaftlicher Wohlstand sich alleine auf den Verbrauch fossiler Brennstoffe gründet und darum auch an sein Ende gelangt ist. Man könnte sich auch vorstellen, dass diese Plattform nicht mehr benutzt wird, weil das Öl alle ist. Ich mochte aber grundsätzlich immer auch das Bild, dass dieses Floß die letzten Überlebenden der Menschheit beherbergt.
F: Steht am Schluss deines Abends dann vielleicht auch eine positive Utopie, wohin sich die Menschheit nach dem Ende des fossilen Zeitalters entwickeln könnte?
E: Das ist auf jeden Fall das Ziel! Allerdings denke ich, dass reine Utopien oder Dystopien am Ende langweilig sind. Mein Ansatz ist eher dialektisch geprägt. Natürlich können wir sagen, dass der reine Fortschrittsglaube problematisch ist. Gleichzeitig müssen wir aber anerkennen, was die Entwicklung der Zivilisation auch im globalen Maßstab erreicht hat, gerade in Hinblick auf die Kindersterblichkeit, die Mitbestimmungsrechte, Gleichstellungsfragen usw. Wir sind außerdem nicht die ersten in der Geschichte der Menschheit, die sich unmittelbar vor der Apokalypse wähnen. Anders gesagt, ich denke schon, dass es einen Ausweg gibt, eine Möglichkeit des Weiterlebens. Das wird aber mit großen Einschnitten und gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen verbunden sein, wobei die Halbwertszeiten dieser Veränderungen gefühlt immer kürzer werden. Wenn man sich allein die letzten zwei, drei Jahre ansieht – wie sehr sich unser Leben durch Corona oder gerade mit dem Krieg in der Ukraine bereits verändert hat und immer noch weiter verändert! Meine Sicht auf die Welt und die Veränderungen darin, ist immer zugleich utopisch und dystopisch. Für uns Theatermacher*innen ist es außerdem nicht so interessant, nur eine der beiden Lesarten zu propagieren, sondern eher das Schweben zwischen diesen beiden Polen zu thematisieren und unser Ringen um eine Positionierung in dieser Zerrissenheit zu formulieren.
Quelle: Programmheft zu „Der Schiffbruch der Fregatte Medusa“ am Residenztheater München. Premiere 14.05.2022. [https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/der-schiffbruch-der-fregatte-medusa] (zuletzt aufgerufen am 18.12.23)
Das Floß der Medusa
Sujet und Dynamik von Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ waren zu seiner Zeit revolutionär. Statt historischer Heldentaten und großer Persönlichkeiten zeigte der französische Maler das Zeitgeschehen in monumentalen Ausmaßen.
Zweimal hatte Géricault bereits Gemälde im Pariser Salon gezeigt ohne dafür Anerkennung zu erhalten. 1818, er war gerade von einem Italienaufenthalt zurückgekehrt, begann er mit den Arbeiten am Floß der Medusa. Géricault fertigte zuerst eine Reihe von Studien an. In einer Zeichnung werden wir Zeuge der Grauen, die zwei Überlebende der Katastrophe in einem Buch schilderten. In einer aufgewühlten See unter einem düsteren Himmel spielen sich dramatische Szenen ab. Auf engstem Raum zeigt Géricault hier Verzweiflung, Mord und Sterben. In seiner Not beißt ein Mann einem Liegenden gierig in den Arm.
In einer anderen Zeichnung entschärft Géricault die Darstellung. Er dreht den Wind nach rechts und zeigt einen pathetischen Moment: den Verzweifelten erscheint ein Hoffnungsschimmer in Form eines winzigen Segels am Horizont. Ein Moment der vergeblichen Hoffnung. Diese Federzeichnung ist spiegelverkehrt zur endgültigen Komposition, die in der Bessonneau-Studie sehr präzise wiedergegeben ist.
18 Menschen sind noch auf dem Floß, aber sechs liegen im Sterben oder sind bereits tot. Géricault bildet drei Menschengruppen. Die erste, im Vordergrund, bildet eine Zusammenfassung der Schrecken, die sich auf dem Floß abspielen. Ein Vater hält seinen sterbenden Sohn, der in seinem Schoß liegt, und blickt resigniert in Richtung des Betrachters. Er hat alle Hoffnung fahren gelassen.
Géricault verlieh dem Vater die Gesichtszüge des Marcus Sextus, der sich auf einem der bekanntesten Gemälde seiner Zeit wiederfinden: der „Rückkehr des Marcus Sextus“ (Salon von 1799) des Baron Pierre-Narcisse Guérin. Höchste Verzweiflung spiegelt sich im Antlitz des Römers, der, aus dem Exil zurückgekehrt, nur noch auf seine soeben verstorbene Gattin trifft. Wohl mag dieser Vater die Salonbesucher von 1819 auch an eine Figur aus der Göttlichen Komödie erinnert haben. Dante beschrieb dort das Leiden des Grafen Ugolino, der in der Festung von Pisa hungert während seine Kinder um ihn herum sterben. Die vorderste Gruppe mit ihren Anspielungen an Malerei und Literatur bilden unseren Einstieg ins Bild.
Neben dem gebeugten Mast, den es in Wirklichkeit nicht gab, befindet sich eine kleinere Gruppe. Die größte Gruppe bildet eine Pyramide rechts im Bild. Die Spitze der Pyramide wird von einem Schwarzen gebildet, der ein rot-weißes Tuch schwenkt, um die Aufmerksamkeit des fernen Schiffes zu wecken. Das Modell für die halb auf einem Fass stehende Figur, war ein Mann namens Joseph, der häufig für Géricault Modell saß. Ein Schwarzer steht über den weißen Kolonialherren. Das bot Sprengstoff.
Kurz vor der Präsentation im Salon sah Géricault sein Bild erstmals aus größerer Entfernung. Er stellte fest dass die ganze Komposition nach hinten zu fallen schien. Um das Gemälde zu ponderieren, fügte Géricault in kürzester Zeit den rechts ins Wasser gleitende Leichnam ein. Sein Kopf ist schon nicht mehr zu sehen, das Gewand hat sich wie ein Leichentuch von der Hüfte aufwärts über den Leib gebreitet.
18 Monate lang arbeitete Géricault wie besessen an seinem Floß. Es heißt, er habe sich die Haare kahlgeschoren und nur einmal das Atelier verlassen, um nach Le Havre zu reisen, wo er die Wirkungen von Meer und Himmel beobachtete. Die Blässe eines Freundes, der sich nur langsam von der Gelbsucht erholte, sei ihm ebenso Vorlage der Hauttöne der Figuren gewesen wie das Inkarnat der Körperteile, die er vom Hôpital Beaujon bezog, und die dem Gerücht nach sein Atelier mit Leichengeruch durchsetzten.
Théodore Géricault brach mit dem Floß der Medusa die Regeln der Kunst. Das Thema ist im aktuellen Zeitgeschehen verankert, es ist keine Heldentat der „Großen Männer“ früherer Tage. Géricault verklärt den Moment des Leidens. Ginge es ihm um eine „realistische“ Darstellung hätte er abgemagerte, dreckige Gestalten gemalt, deren Körper von Wunden übersäht, deren Haut von der Sonne zerplatzt und von einer Tropenkrankheit gezeichnet war. Die Figuren, selbst die Toten, sind junge, wohlgenährte Athleten. Géricault monumentalisiert eine Zeitungsnachricht – das ist neu, das ist engagierte Kunst, das ist Realismus.
Zwei imaginäre Diagonalen durchkreuzen das Bild. Die eine, von rechts unten nach links oben, weist durch die zuletzt eingefügte Figur über das geblähte Segel auf eine bedrohlich hohe Welle – vom Tod zum Verderben. Von links unten nach rechts oben eine Diagonale der Hoffnung. Von Tot und Selbstaufgabe hin zu Hoffnung, Lebenswillen und Rettung. Es ist ein Bogen der Extreme, von der tiefsten Niedergeschlagenheit zur lichtesten Hoffnung. Die radikale Dynamik der Erzählung und der asymmetrische Bildaufbau sind höchst innovativ.
Quelle: Tanner, Ekkehard: Das Floß der Medusa Teil 2. In: Schirn Mag, 13.11.2013. [https://www.schirn.de/magazin/kontext/das_floss_der_medusa_2/] (zuletzt aufgerufen am 18.12.2023)
// Der englisch-französische Konflikt um die Vorherrschaft in Übersee
Mit seinem globalen Engagement wurde Frankreich im 18. Jahrhundert zu der europäischen Macht, die mit England um die Führungsposition in Ubersee rivalisierte. Eine Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern vom späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert bilden die dritte Runde europäischer Machtkämpfe globaler Dimension. Zunächst schwappten Pfälzischer und Spanischer Erbfolgekrieg über den Atlantik und verquickten sich in Nordamerika mit französisch-irokesischen Gegensätzen, mit lokalen Rivalitäten zwischen Engländern und Franzosen und mit innerindianischen Konflikten. Die beiden europäischen Parteien stritten um Fischgründe, Siedlungsgebiete und Anteile am Pelzhandel. Sie hatten jeweils indianische Verbündete, die im Schatten der europäischen Streitigkeiten ihre eigenen Differenzen ausfochten. Im Frieden von Utrecht 1713, der diese erste Runde britisch-französischer Machtkämpfe beendete, musste Frankreich die Acadie an England abtreten, das sich zudem von Spanien ein Monopol auf die Belieferung der südamerikanischen Kolonien mit afrikanischen Sklaven einräumen ließ, den so genannten „asiento“. Außerdem erhielt England das Recht, einmal pro Jahr mit einem Schiff Waren nach Porto Bello am Isthmus von Panama zu bringen und zu verkaufen.
Die Konflikte schwelten jedoch weiter. Auf der Ile Royale, die die Einfahrt in den St.-Lorenz-Strom kontrolliert, baute Frankreich die mächtige Festung Louisbourg, was England mit Beunruhigung sah. Frankreich wiederum fühlte seine Stellung in Nordamerika gefährdet, weil nach und nach anglo-amerikanische Kolonisten nach Westen über die Appalachen bis ins Mississippi-Tal vorstießen.
ln Europa war es die Annäherung zwischen Frankreich und Spanien, die in England erneut die Sorge vor einer bourbonischen Übermacht wachsen ließ und intensivere Kontakte zu Österreich zur Folge hatte. Als Preußen 1740 und 1745 Österreich angriff, um die umstrittene Thronfolge Maria Theresias zum Ausbau seiner territorialen Position in Schlesien zu nutzen, unterstützte Frankreich Preußen und England Österreich. Die zweite Runde in der globalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltmächten begann. In der Karibik waren ohnehin schon Kämpfe aufgeflammt, weil das mit Frankreich verbündete Spanien gegen den Schmuggel einschritt, zu dem England seine Rechte von 1713 missbrauchte. Nun plünderten die Engländer Porto Bello, belagerten Cartagena, befestigten ihre eigenen Stützpunkte und konnten Gegenangriffe abwehren. George Anson trug den Krieg in den Pazifik und kaperte 1744 eine Manila-Galeone. Auch in Nordamerika kam es zum offenen Konflikt. Von Louisbourg aus wurden englische Siedlungen auf Nova Scotia beschossen. Die Engländer reagierten mit einer Seeblockade und zwangen die Besatzung der Festung zur Aufgabe. In Indien verquickte sich der englisch-französische Gegensatz mit regionalen Konflikten. Englische Schiffe kaperten französische, und die französische Flotte eroberte Madras und hielt die Festung trotz englischer und indischer Gegenangriffe. Pondicherry wurde von Engländern belagert, während die Franzosen das südlich ihres wichtigsten Stützpunkts liegende englische Fort St. David attackierten. Der Frieden von Aachen 1748 entschärfte die Konflikte vorübergehend. Louisbourg fiel wieder an Frankreich und Madras an England, das auf sein Monopol im Sklavenhandel mit Spanisch-Amerika verzichtete. […]
In Afrika verloren die Franzosen 1758 Stützpunkte im Mündungsgebiet des Senegal-Flusses an die Engländer und damit Nachschubquellen für Sklaven. Mit der Annexion von Guadeloupe und Martinique schwächten die Engländer die französische Position in der Karibik. Da sich das bourbonische Spanien 1761 an die Seite seiner französischen Verwandten stellte, wurde es ebenfalls Kriegsgegner der Engländer. 1762 wurden Havanna und Manila besetzt. Keine Weltgegend schlossen die Engländer bei ihren Planungen aus, sofern ein Engagement strategische und machtpolitische Vorteile bringen konnte. Nicht zuletzt aufgrund dieser Konzeption, die einen globalen Raum zu Grunde legt, kann hier vom ersten Weltkrieg der Geschichte gesprochen werden.
Der Friede von Paris 1763 machte Frankreich in Übersee zum Verlierer des Krieges. […] Insgesamt verzeichnete England nicht nur erhebliche Territorialgewinne, sondern setzte sich auch als weltweit dominierende Seemacht durch. In den folgenden Jahrzehnten versuchte Frankreich vergeblich, diese Rollenverteilung zu verändern. Der vordergründig vor allem wissenschaftliche Wettlauf um die Erkundung des Pazifiks und Ozeaniens, der weiter unten in einem eigenen Abschnitt vorgestellt wird, endete wiederum mit Vorteilen für England, das diese nutzte, um mit Australien und Neuseeland zwei weitere große Siedlungskolonien zu begründen. Dass dazu 1788 in Australien ein Anfang gemacht wurde, hatte auch mit Ereignissen zu tun, die sich weit entfernt vom Fünften Kontinent abspielten: mit der Dekolonisation Amerikas nämlich, in der Frankreich eine Chance sah, den Rivalen jenseits des Ärmelkanals zu schwächen.
Nach dem ersten wichtigen Sieg der Amerikaner gegen die Engländer 1777 bei Saratoga ergriff Frankreich 1778 Partei für die nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien. Nicht zuletzt dank seiner Unterstützung konnten die Aufständischen 1781 bei Yorktown einen kriegsentscheidenden Sieg erringen. Im Frieden von Paris musste England 1783 die Unabhängigkeit der USA anerkennen. Für England bedeutete das einen schmerzhaften Verlust. Ein Großteil der Schiffe beispielsweise, die das Empire benötigte, war bislang in den amerikanischen Kolonien gebaut worden. Und auch Sträflinge konnten nun nicht mehr dorthin abgeschoben werden. Dafür bot Australien eine Alternative, während seit dem frühen 19. Jahrhundert die englische Handels- und Kriegsmarine den nötigen Ersatz an Material und Kapazitäten für den Schiffbau mehr und mehr in indischem Teakholz und in den Werften Bombays fand.
Auch die Dynamik, die Französische Revolution und Napoleonisches Kaisertum in, aber auch außerhalb Europas entfalteten, konnte das Blatt in der globalen Auseinandersetzung mit England nicht mehr wenden. Im Strudel der kriegerischen Ereignisse, in denen bei ansonsten wechselnden Allianzen die englisch-französische Gegnerschaft die Konstante bildete, wandelte sich die kolonialpolitische Landschaft tiefgreifend. Auswirkungen bis weit in die außereuropäische Welt hatten besonders die französische Besetzung der Niederlande, der Ägyptenfeldzug Napoleons sowie dessen Einmarsch nach Spanien und Portugal. In Nordamerika, in der Karibik, in Afrika, in Indien und selbst in Australien war der europäische Konflikt spürbar, sei es, dass versucht wurde, hier Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, sei es, dass lokale Konflikte zusätzlichen Zündstoff erhielten.
Die Eroberung der Niederlande durch Truppen der Revolution 1795 bedeutete das Ende der VOC, die 1799 aufgelöst wurde. Die Verantwortlichen der Niederlassungen in Asien schlugen sich auf die Seite der Engländer, die die Kolonie am Kap, Ceylon, die indischen Besitzungen, Malakka und die Molukken besetzten. Lediglich Batavia und Java blieben bis 1811 niederländisch, als englische Truppen die Insel und ihre Hauptstadt einnahmen. Die ehemaligen WIC-Gebiete auf dem südamerikanischen Festland wurden gleichfalls englisch und später zur Kolonie Britisch-Guayana zusammengefasst.
Mit seinem Ägyptischen Feldzug von 1798 wollte Napoleon Englands Position in Südasien beeinträchtigen. Doch die Niederlage gegen Nelson in der Seeschlacht von Abukir machte alle entsprechenden Träume zunichte. Im Gegenzug nahmen englische Truppen in Indien die verbliebenen französischen Stützpunkte ein. Auch Mauritius, Reunion und die Seychellen fielen in englische Hände. Von Mauritius aus hatte Napoleon 1809 einen Angriff auf Sydney geplant, und bereits 1802 war eine französische Forschungsexpedition in australischen Gewässern aufgetaucht, wohl auch, um sich ein Bild von den Verteidigungsanstrengungen zu machen. Von ihren westafrikanischen Stützpunkten aus griffen Franzosen britische Schiffe im Atlantik an. Englische Gegenschläge waren hier gleichfalls die Folge. […]
1815 ging die mehr als hundertjährige Rivalität zwischen Frankreich und England um die europäische globale Hegemonie zu Ende. Wenn man vom Verlust der USA absieht, setzte sich das Britische Empire, wie es nun tatsächlich genannt werden konnte, in allen umstrittenen Gebieten durch und stieg zur unangefochtenen Weltmacht auf. Seine Position im Handel hatte es gestärkt und seinen Territorialbesitz erheblich erweitert. […]
Die Siedlung am Kap der Guten Hoffnung ging von niederländischen in britische Hände über. An der Guineaküste sicherte eine Reihe von Stützpunkten dem Empire den Nachschub von Sklaven, so lange dieses Geschäft noch betrieben wurde. Das stärkte die englische Position in der zuckerproduzierenden Plantagenwirtschaft der Karibik, zu der nun auch noch St. Lucia kam. Gleichzeitig wurden jedoch die kritischen Stimmen immer lauter, die ein Ende des Sklavenhandels forderten. Abolitionisten sorgten dafür, dass freigelassene Sklaven aus Jamaika und den USA über den Atlantik zurückwandern konnten. Sie wurden an der Küste Sierra Leones angesiedelt, das 1808 den Status einer britischen Kronkolonie erhielt. Weiter nördlich an der Mündung des Gambiaflusses setzten sich die Engländer darüber hinaus in einem Gebiet fest, in dem auch Franzosen sehr aktiv waren. Noch heute schiebt sich entlang des Flusses das englischsprachige Gambia wie ein Keil in den frankophonen Senegal.
Quelle: Wendt, Reinhard: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. Aktualisierte Auflage Paderborn 2016.