Erschreckend aktuell: Anthony Burgess: Die Uhrwerk-Orange (A Clockwork Orange)
Erschreckend aktuell?
Wie aktuell ist dieses Buch über exzessive Jugendkriminalität in einem England auf bestem Weg in die Autokratie?
Kommentar von g.wasa – Detmold
„Mehr Angriffe durch Minderjährige.
Die Gewaltkriminalität in Deutschland erreicht einen neuen Höchststand.
Laut Polizeistatistik schlagen immer häufiger Kinder und Jugendliche zu …“
(SPIEGEL Nr. 14/2025, S. 20)
„Britische Rechtspopulisten in Umfrage erstmals stärkste Kraft
Rechtspopulist Nigel Farage setzt die etablierten britischen Parteien
immer stärker unter Druck.
Mit Reform UK landete er in einer wichtigen Umfrage erstmals auf Platz eins.“
( Spiegel-online 04.02.25)
Das Buch
1962 veröffentlichte der englische Schriftsteller ANTHONY BURGESS den dystopischen Roman A Clockwork Orange. Die „Time zählt diesen Roman zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden. 2015 wählten 82 internationale Literaturkritiker und -wissenschaftler den Roman – aller Kritik (s.u.) zum Trotz! – zu einem der bedeutendsten britischen Romane“ (Wikipedia). – Zusätzliche Popularität gewann das Buch 1971 durch STANLEY KUBRICKs kongeniale Verfilmung.
Der Autor
ANTHONY BURGESS (John Anthony Burgess Wilson; * 25.02.1917 in Manchester, † 22.11.1993 in London) hatte keine einfache Kindheit. Als Halbwaise und Katholik war er in der Schule Außenseiter. Trost fand er in Literatur und Musik. Zum Musik-Studium wurde er nicht angenommen, studierte stattdessen Englische Literatur. Mit dem British Army Education Corps ging er nach Gibraltar und unterrichtete dort Deutsch, Französisch und Spanisch. Seine in England zurückgebliebene Ehefrau erlitt eine Fehlgeburt nach einem Überfall und Vergewaltigung durch vier US-Soldaten – eine ähnliche Szene findet sich in „Clockwork Orange“.
Es folgte weitere Lehrtätigkeit in den Kolonien, später auch (unter anderem) in den USA. Daneben (und sein Leben lang) komponierte der Musikliebhaber zahlreiche Stücke, die aber erfolglos blieben – anders als seine Literatur, mit der er es allmählich zu Weltruhm und zu Wohlstand brachte. „A Clockwork Orange“ ist sein bekanntester Roman, wobei er sich – verständlicherweise, angesichts seiner breiten künstlerischen Spannweite – ärgerte, in der öffentlichen Meinung darauf reduziert zu werden. (mehr in Wikipedia)
Der Roman – Titel:
BURGESS hat die Herkunft des Titels mehrfach erklärt: Im Cockney-Slang bedeutet „as queer as a clockwork orange“ eine Verrücktheit wider die Natur. Denn was „könnte bizarrer sein als die Vorstellung einer Uhrwerk-Orange?“
(BURGESS nach Wikipedia)
Der Roman – Inhalt:
Teil 1: Die Rowdys
In naher Zukunft in einem autokratisch regierten England: Alex lebt mit „Pe“ und „Em“ im 10. Stock eines heruntergekommenen Wohnsilos in einer öden Londoner Vorstadt. Mit knapp 16 hat er schon einige Besserungsanstalten hinter sich. Tagsüber geht er (wenn er Lust hat) zur Schule, abends trifft er sich mit seinen Droogs (Kumpels, Bandenmitglieder) im „Korowa“, wo Milch mit Drogen serviert wird. Von da aus gehen sie auf Tour, klauen Autos, verprügeln Passanten, liefern sich brutale Gefechte mit konkurrierenden Banden, „schäkern“ mit Frauen, womit sie Gruppenvergewaltigungen nebst grausamsten Quälereien umschreiben. Einmal dringen sie ins Haus eines Schriftstellers ein, vergewaltigen dessen Frau, die später an den Folgen stirbt. Auch bei einem weiteren Einbruch stirbt die Besitzerin. Doch diesmal wird Alex von seinen Droogs – die wegen seiner angemaßten Führungsrolle sauer sind – an der Flucht gehindert, geschnappt und zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt.
Teil 2: Gefängnis und Therapie
Alex schleimt sich ein und schafft es, als Versuchsperson für das „Ludovico-Verfahren“ ausgewählt zu werden: eine Aversionstherapie, bei der er derart mit Filmen von grausamsten Brutalitäten überflutet wird, dass selbst er dadurch „geheilt“ wird, was bedeutet: Wenn er auch nur an Konfrontation denkt, wird er vor Übelkeit handlungsunfähig. Alex‘ Problem: Die Filme sind mit klassischer Musik unterlegt (Dr. Brodsky: „Musik ist ein nützlicher Emotionsverstärker“; 134, II-6), und der leidenschaftlichen Klassik-Liebhaber Alex kann ab jetzt die Musik von „Ludwig van“ & Co. so wenig ertragen wie Gewalt und Sex.
Teil 3: Spielball der Politik
Als „geheilt“ entlassen, wird der bisherige Täter zum Opfer. Jetzt ist er es, der gedemütigt und zusammengeschlagen wird, wogegen seine früheren Droogs ihre Prügelorgien nunmehr als Polizisten legal fortsetzen. Als Polizeiopfer flieht Alex ausgerechnet in das Haus des Schriftstellers von damals: einem Systemgegner, welcher Alex als Gehirnwäsche-Opfer gegen das Regime instrumentalisieren will. Als er in ihm seinen früheren Peiniger erkennt, treibt er ihn in den Selbstmord, indem er ihn mit klassischer Musik foltert. Doch Alex überlebt den Sturz aus großer Höhe; und während des Genesungsprozesses heilt nicht nur sein Körper, sondern auch sein Charakter: Er wird wieder der alte. Und das Regime arrangiert sich mit ihm.
Schluss: Was wird aus Alex?
Im abschließenden Kapitel macht sich Alex daran, ein normalbürgerliches Leben zu führen … Nicht so recht glaubwürdig! Weshalb beispielsweise der Verleger der amerikanischen Erstausgabe dieses Kapitel einfach wegließ (das somit auch nicht in Kubricks Film einging). BURGESS protestierte dagegen, musste aber zustimmen, weil er das Geld brauchte. Später, im Vorwort zur ersten kompletten US-Ausgabe, schrieb er:
„Mein Buch entsprach [optimistischen] Kennedy’schen Ansichten und akzeptierte die Idee eines moralischen Fortschritts. Was man wirklich wollte, war ein [pessimistisches] Buch passend zu Nixon ohne einen Funken Optimismus“ (zit. n. Wikipedia).
Kritik:
Die Gewalt
A Clockwork Orange war von Anfang an umstritten: Auf der einen Seite steht die Wertschätzung der literarischen Qualitäten (u. a. der originellen Sprache, s.u.), andererseits gibt’s den Vorwurf, Gewalt zu verherrlichen (ein Vorwurf, der vor allem KUBRICKs Film traf: „27 Jahre lang wurde der Film in Großbritannien bis nach Kubricks Tod weitgehend unter Verschluss gehalten“; Wikipedia).
Das Landestheater Detmold schreibt zu seiner Bühnenfassung:
„Der Stoff kreist um die große Frage, welche Rolle Gewalt in der Gesellschaft spielt. Was erzeugt Gewalt? Gibt es einen Teufelskreis, aus dem selbst ehemalige Opfer kein Entrinnen finden? Erzeugt Gewalt zwangsläufig Gegengewalt? Darf Gewalt durch Gewalt geahndet werden? Wie wird der Mensch ein besserer Mensch?“
Was die Gewalt erzeugt, kann (oder will?) BURGESS allerdings nicht beantworten. Sind die Eltern schuld? das soziale Milieu? das öde Wohnumfeld? Dies alles bleibt in der Darstellung zu blass, als dass man hier Ursachen finden könnte. Immerhin erkennt die Regierung, „was dabei herauskommt, wenn man Kriminelle zusammenpfercht: konzentrierte Kriminalität“ und „kann sich (deshalb) nicht mehr mit veralteten Strafvollzugskonzepten abgeben“ (109, II-3)
Es bleibt die Frage, wie der Mensch zu bessern wäre. Überhaupt: Ob? Zumindest im speziellen Fall von Alex funktioniert die „Ludovico“-Methode, die brutale Aversions-Therapie nicht.
Determinismus oder Willensfreiheit?
Und die noch spannendere Frage: Wäre ein derartiger kompletter Umbau eines menschlichen Charakters ethisch vertretbar? Für die Obrigkeit (vom Innenminister bis zum Gefängnisdirektor) geht es nur darum, mit dieser „Heilmethode“ möglichst viele Zellen leer zu kriegen. Denn (zur Erinnerung: wir sind in einem autokratischen System): „… bald werden wir allen Platz in den Gefängnissen für politische Straftäter brauchen“ (109, II-3).
Einziger Bedenkenträger ist der Gefängnispfarrer (aber auf den hört keiner, schon gar nicht Alex):
„Es geht dabei um sehr schwierige ethische Probleme … Will Gott den guten Menschen, oder will er den Menschen, der das Gute wählt? Ist ein Mensch, der das Böse wählt, womöglich gar besser als einer, dem das Gute aufgezwungen wird?“ (113, II-3)
Dies führt zur Frage nach der Entscheidungsfreiheit des Menschen. Der Gegensatz „Determinismus ./. Willensfreiheit“ zieht sich durch den Rest des Romans. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden (Psychologen und Philosophen haben dazu ganze Bücherregale vollgeschrieben; siehe etwa „Diktator im Gehirn“, über M. Sapolsky).
Hier nur noch so viel: Der oppositionelle Schriftsteller versucht, Alex aufzuklären:
„Die haben etwas aus Ihnen gemacht, was nicht mehr menschlich ist Sie haben keine Wahlfreiheit mehr. Sie sind jetzt auf sozial erwünschte Handlungen programmiert, wie eine kleine Maschine, die nur noch Gutes tun kann …“ (183, III-4). –
Und: „Das ist jetzt nur der Anfang. Bevor wir wissen, woran wir sind, haben wir dann den Totalitarismus mit allen Schikanen …“ (188, III-5)
„Nadsat“: Die Sprache
… nach diesem Quorietsch mit Dr. Brodsky sagte ich zu der Dewotschka, die mir die Spritze geben wollte, „nein!“ und tollschockte sie auf die Rucke, dass die Spritze zu Boden klirrte. Sie holten vier echt bolschige Unterfecken, die mich festhielten und tollschockten, mit grinsenden Litschos, und dann kam diese Petieze von Schwester … und hieb mir das Zeug echt brutal in die Rucke … (138 f.) II-6
„Wie der redet!“, sagte Dr. Brodsky … „Stammesdialekt. Haben Sie eine Ahnung, wo das herkommt …?“ (135 II-6)
Ein Teil des Lesevergnügens ist sicherlich der originellen Sprache zu verdanken (die – zumindest in der Übersetzung von Wolfgang Krege – recht gut ins Deutsche übertragen wurde). „A Clockwork Orange“ ist ja die biografische Ich-Erzählung des fragwürdigen Helden Alex – und deshalb durchgehend in dessen Slang verfasst, was dem Buch den Anschein von Authentizität verschafft. Dieses „Nadsat“ hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag, der auch erläutert, was „Nadsat“ bedeutet: Das russische надцать (nadzat) kennzeichnet die „-zehn“ in den Zahlen elf bis neuzehn, entspricht also dem englischen „-teen“; Nadsat bedeutet also einfach: Teenager-, Jugendsprache. Natürlich gibt’s auch ein Lexikon, das etwa 10 Dutzend Nadsat-Begriffe mit deutscher Übersetzung enthält.
Aber man kommt auch ohne dies aus. Aus den romanischen Sprachen kennt man etwa „Sabot“ (Schuh) oder „Pantalonis“ (Hose). Die meisten Begriffe stammen aber aus dem Russischen. Recht bekannt sind etwa „Babuschka“, oder „Tschai“ (nicht nur in der slawischen Sprachfamilie: für Tee). Viele wissen, dass „Roboter“ vom russischen Wort für „Arbeit“ kommt; die meisten anderen Begriffe erschließen sich im Lauf der Lektüre aus dem Zusammenhang, zum Beispiel Litscho für Gesicht (лицо – litso).
Wie auf so manche Frage, gibt BURGESS auch auf die Frage „wo das herkommt“ die Antwort innerhalb seines Romans:
„Ein paar Bröckchen alter britischer Reimslang. Außerdem ein paar Zigeunerwörter. Aber die meisten Wortwurzeln sind slawisch. Wahrscheinlich Propaganda, subliminale Penetration.“ (135 II-6)
Die Musik:
Im Roman des Musikliebhabers BURGESS spielt klassische Musik eine tragende Rolle, nicht erst während des Ludovico-Verfahrens und im Leben des „geheilten“ Alex. Schon vorher kommt es zum Streit zwischen Alex und seinem Kumpel Doofie, weil der eine Sängerin beleidigt – eine Schlüsselszene: der Beginn der Entfremdung zwischen Alex und seinen Droogs. – Geradezu obszön sind die Elogen auf klassische Musikstücke, welche der Autor dem Sadisten Alex in den Mund legt! – Leseprobe:
„O Seligkeit, o Himmel! Ich lauschte dem Labsal der lieblichen Töne. O welcher fleischgewordene Wohllaut! Rotgolden wetterleuchteten die Posaunen, silbern flammten dreifach die Trompeten, und die Pauken rollten durch meine Eingeweide und kamen herausgestiegen wie ein kandiertes Gewitter … Während ich lauschte, sah ich die herrlichsten Filme vor Augen. Fecken und Petiezen, junge wie alte, lagen um Gnade winselnd auf dem Boden, ich aber drehte den Stiefelabsatz in ihren Litsos herum. Aufgeschlitzte Dewotschkas kreischten, und ich tauchte in sie ein wie ein Schwert, und wahrhaftig, als die Musik die Spitze ihres höchsten Turmes erreichte, da brach es aus mir heraus, und ich schrie laut vor Begeisterung. Und dann glitt die herrliche Musik in ihr sanftschimmerndes Finale hinüber. Danach hörte ich die Jupitersinfonie von dem himmlischen Mozart, und neue Filme trugen neue Litsos zum Zertreten und Zerfetzen heran …“