Der Friedhofsgänger
Er nannte es Leidenschaft, Neigung vielleicht sogar Zwang, die wöchentlichen Gänge auf den Friedhof.
Er hatte kein Grab zu pflegen, besuchte kein Urnengrab und nicht die grüne Wiese.
Seit seiner Jugend kleidete er sich schwarz und wenn er ausging trug er Sommer wie Winter einen langen schwarzen Mantel. Er ließ die Haare lang wachsen und färbte sie regelmäßig schwarz.
Inzwischen war er stadtbekannt.
Er war besessen von dem Gedanken etwas Großes zu tun. Etwas Großes im Verborgenen, dennoch von allen bemerkt. Das Große war ein schwammiger Begriff geblieben, weil er nie fand wonach er suchte.
Er lebte allein, war am liebsten allein und fühlte sich nie einsam.
Seit einigen Monaten ging er täglich auf den Friedhof in der Stadtmitte. Es war ein Camposanto von 1594, nicht sehr groß und weniger besucht, als der andere Friedhof. Im Sommer blieb er häufig nach der Schließung dort und suchte sich einen der Bögen in den Arkaden aus, um dort zu nächtigen.
Diese Besuche wurden ihm mehr und mehr befreiende Spaziergänge.
Im Greisenalter wich der Gedanke etwas unvergesslich Großes zu leisten der Sehnsucht nach Ruhe und Meditation.
Man erzählte sich, dass der schwarze Mann täglich den Weg zum Gottesacker sucht und dort zwischen den Gängen Selbstgespräche führt.
In der Tat philosophierte er halblaut und ging der Frage nach ob Leben allgemein nicht ohne Sinn wäre.
Ob Leben existiert oder nicht, ist ohne Belang im Weltall.
Die jahrelange Leidenschaft Stätten des vergangenen Lebens zu besuchen hatte ihn am Lebensende hierher und zu dieser Erkenntnis geführt. Seine Existenz ist sinnlos, das Streben nach Großem nachgerade lächerlich.
Der Wunsch ins Nichts zu schweben erfüllte ihn ganz und gar.
Wie die Vorväter vergangener Völker legte er sich und war zufrieden sich aufzulösen.
Sabine Penckwitt für kulturinfo-lippe