Foto von links: Kerstin Tölle (Team Vermittlung), Dariusch Yazdkhasti (Schauspieldirektor), Nadja Loschky (Intendantin), Michael Mund (Operndirektor) und Felix Landerer (Leiter TANZ Bielefeld).
Programm_Theater Bielefeld_Spielzeit_25-26
unfassbar real
Nach Die Würde des Menschen ist unantastbar der aktuellen Spielzeit hat das
Theater Bielefeld für die kommende Saison mit unfassbar real ein Motto gewählt,
das Raum für verschiedenste Assoziationen lässt und gleichzeitig den Gedanken
weiterführt:
Was ist nach 75 Jahren Grundgesetz – Frieden, Freiheit, Sicherheit auf der Basis demokratischer Grundordnung – aus unserem Rechtsstaat geworden?
Was geschieht in der Welt, welche Mächte spielen dort und wie ändert das
womöglich unser Dasein? Was ist überhaupt »real«? Gerade das Unfassbare im Realen kann Angst machen. Doch unfassbar ist nicht
nur ein Wort des Schreckens. Es beschreibt ebenso das Außergewöhnliche, das Atemberaubende, das unsere Erwartungen übertrifft und unsere Vorstellungskraft herausfordert. Das Atemberaubende, das uns die Realität zuweilen bietet, kann auch Hoffnung geben, sich dafür einzusetzen, dass es diese Momente weiterhin und immer wieder geben wird – für alle. Das Theater ist ein Ort, an dem sich genau diese Kraft entfaltet. Die flüchtige Kunst, die im Entstehen bereits zur Vergangenheit wird, der flüchtige Moment, der unwiederbringlich verloren geht. Und der doch ein beliebig großes Publikum zum gemeinsamen Atmen, Schweigen, Zuhören, Mitfühlen bewegen kann. Nachdem
man sich auf seinem Sitz niedergelassen hat, begibt man sich für die Dauer des Theaterabends in eine neue Realität. Dort stehen, sprechen, singen, tanzen und schwitzen echte Menschen auf der Bühne. Echtes Holz bewegt sich, echter Stoff. Keine Bots. Keine möglicherweise generierten Bilder.
Das Potential des Unfassbaren im Theater zeigt sich durch die Emotionalität, die durch das Theatererlebnis ausgelöst wird. Es ist ein Medium, das unfassbar real ist – sowohl in seiner unmittelbaren Wirkung auf das Publikum, als auch in dem, was es abbildet. Theater stellt Realitäten auf die Bühne, die mal waren, die heute noch sind und die uns ein Wegweiser sind bei der Frage, wo es hingehen soll. Theater
ist ein Ort, der Utopien entwerfen darf. Es spiegelt Wirklichkeiten, macht sie erfahrbar, bringt Menschen zusammen. Hier entsteht ein Raum, der Brücken zwischen den Realitäten der Einzelnen schlägt. Seit unserer letzten Motto-Verkündung hat sich einiges verändert – vieles Unerwartete, vieles Unfassbare. Doch die Aufgabe, unsere Demokratie zu schützen, bleibt weiterhin bestehen.
Die Premieren der Spielzeit 2025/26
Der Beginn im Musiktheaterspielplan ist wahrlich märchenhaft: Das Musical Anastasia erzählt von einer abenteuerlichen Reise, von Freundschaft, Liebe und Gefahr sowie der Suche nach sich selbst – frei nach dem gleichnamigen Animationsfilm von 1997. Die erste Opernpremiere, Peter Grimes, ist zugleich ein erstes Kennenlernen des neuen Generalmusikdirektors Robin Davis. Er übernimmt die
musikalische Leitung des Werkes, mit dem Benjamin Britten 1945 sein Durchbruch als Opernkomponist gelang. Der etwas verniedlichende Titel Die diebische Elster täuscht darüber hinweg, welch dramatischen Stoff der junge Gioachino Rossini hier inhaltlich wie musikalisch für die Opernbühne gestaltet hat: Ninetta, Dienstmagd beim reichen Pächter Fabrizio, hat einen schwarzen Tag. Zwar kehrt ihr Geliebter heil aus dem Krieg zurück, doch ihr ebenfalls eintreffender Vater wird als Deserteur verfolgt. Viel schlimmer noch: Ninetta wird ein Diebstahl angelastet, und dafür verhängt der Bürgermeister kurzerhand die Todesstrafe. Komponistin Elisabeth Naske schuf 2022 aus dem Kinderbuch Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf dem Kopf gemacht hat eine Kinderoper, die im Foyer der Rudolf-Oetker-Halle und als mobile Produktion für Kitas zu erleben sein wird. Kassandra, Christa Wolfs 1983 erschienene Erzählung, wird in Bielefeld zu einem spartenübergreifenden Musiktheater um eine starke Frauenfigur. Vertont von Mathis Nitschke und mit einem Libretto von Intendantin Nadja Loschky und Yvonne Gebauer kommt das Werk im Stadttheater zur Uraufführung. György Ligetis Le Grand Macabre – ein klangstarkes Spektakel, irgendwo zwischen Mysterienspiel, Oper und Satire angesiedelt, dabei musikalisch höchst anspruchsvoll
und nicht ohne Selbstironie – ist genau das Richtige für das Format Lichtspieloper in der Rudolf-Oetker-Halle. Mit auf der Bühne: Live-Zeichner Reinhard Kleist, der bereits bei Honeggers Johanna auf dem Scheiterhaufen (Januar 2024) in Bielefeld für großes Aufsehen gesorgt hat. Eine Show voll bitterbösem Witz schuf Leonard Bernstein mit Candide, der doch in »der besten aller möglichen Welten« lebt, wie ihm sein Lehrer Pangloss beibrachte. Doch nun muss der unerschütterliche Optimist sich durch Katastrophen, Kriege und Verbrechen
manövrieren. Dass Bernstein seine Comic Operetta 1956 als Reaktion auf die McCarthy-Ära und zur Zeit des Kalten Krieges schrieb, sind nur zwei der erschreckend aktuellen Parallelen zu unserer heutigen »bestmöglichen Welt«. Peter Pan, der Junge der niemals erwachsen werden kann, lebt auf der Insel Nimmerland, wo er einige gefährliche Abenteuer erlebt. Als spartenübergreifende Produktion mit Live-Musik für Groß und Klein folgt Peter Pan Produktionen wie Der Sandmann und Fahrenheit 451. Den Saisonabschluss liefert Giuseppe Verdi
mit Der Troubadour, einem seiner größten und mitreißendsten Meisterwerke um Rache, Liebe, Abgründe und Macht. Ein Wiedersehen gibt es mit Pierangelo Valtinonis Familienoper Alice im Wunderland und, aufgrund der großen Nachfrage, auch mit dem Musical Cabaret.
Geradezu kulinarisch wird es zum Saisonstart der Tanzsparte: In Food for Thought kredenzen die renommierten Gast-Choreograf*innen Roy Assay, Sarah Balzinger und Isaiah Wilson mit ihren jeweiligen Stücken Goats und Concept No. 31022025 (Arbeitstitel) zwei Gedanken-Gänge. Während in Goats – eine Koproduktion mit dem Scapino Ballet in Rotterdam – Mythen, Machtstrukturen und ungezähmte Instinkte kollidieren, bleibt Concept No. 31022025 zunächst ein Rätsel. Für 360°, die zweite Produktion der Spielzeit, laden der künstlerische Leiter von TANZ Bielefeld Felix Landerer und die Choreografin Marion Zurbach dazu ein, näher an den Tanz zu rücken – und zwar so unmittelbar, dass das Publikum Teil des Bühnenbildes wird. Beide Uraufführungen dieses besonderen Doppelabends
im TOR 6 Theaterhaus sind in einer 360°-Bühne inszeniert, die einen Perspektivwechsel provoziert. Im dritten Tanzabend Everything will be ok erforscht Felix Landerer das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Positivität und Optimismus in einer Welt voller Chaos. Der zweiteilige Tanzabend spiegelt das tiefe Verlangen nach Hoffnung und einer positiven Zukunftsperspektive wider – inmitten eines
überwältigenden Gefühls von Ungleichgewicht, Katastrophen und einem schwindenden Vertrauen in die Erzählung von einem Happy End. Im Rahmen des alljährlichen Tanzgastspiels lädt Felix Landerer zudem erneut internationale wegweisende Künstler*innen nach Bielefeld ein. Die Carte Blanche entstand als kreative Plattform für die Tänzer*innen des Ensembles und gleichzeitig als Brücke in die Stadt, fernab des gewohnten Theaterkontextes. Als Folgeprojekt des Junge Choreograf*innen-Abends im Freizeitzentrum Baumheide in dieser Saison (geplant für Juli 2025), wird TANZ Bielefeld in der nächsten Spielzeit weitere inspirierende Räume bespielen.
Das Schauspiel beginnt mit State of the Union von Nick Hornby. Der Autor wirft darin einen umfassenden Blick auf eine ganz normale Ehekrise, beleuchtet auch deren komische Seiten und wird mit viel Musik in Szene gesetzt. Goethe schreibt in seinem 1794 veröffentlichten Versepos Reineke Fuchs gegen seinen Frust über die politischen Umstände seiner Zeit an. Wer in unserer Gegenwart nach Ähnlichkeiten
mit Reinekes »Karriere« sucht, wird leider wohl nicht selten fündig. In Wutschweiger von Jan Sobrie und Raven Ruëll erlebt ein junges Publikum ab 10 Jahren, wie sich die beiden Jugendlichen Ebeneser und Sammy dank ihrer Freundschaft gegenseitig stärken, ausweglos scheinende Situationen gemeinsam aushalten und dabei über sich hinauswachsen. Laura Naumann schreibt mit Schleuderdrama (Arbeitstitel) ein neues Stück für das Theater Bielefeld und beschäftigt sich u.a. mit der Frage: Wie kann Verständigung gelingen in einer Welt, die wir zunehmend über digitale Konstrukte wahrnehmen? Wenn Die kleine Hexe es schafft, ein ganzes Jahr lang eine gute Hexe zu sein, darf sie bei der nächsten Walpurgisnacht mittanzen! Aber was bedeutet das eigentlich, eine gute Hexe sein? Otfried Preußlers Kinderbuchklassiker wird das Familienstück zur Weihnachtszeit. Bietet die Methode »Bondi Beach« – unter der Woche gesunder
Verzicht, am Wochenende ausgedehntes Partyleben, wie früher eben – eine Perspektive für die Lebenshälfte 40+? Die Autorin Rebekka Kricheldorf erweist sich mit ihrer Komödie Bondi Beach einmal mehr als Expertin für einen humorvollen Blick auf existentielle Fragen des Lebens. Kangal ist ein packender, hochpolitischer Thriller über Überwachung, Denunziation und das Schweigen, das von der Türkei
bis nach Deutschland reicht. Eine Bühnenfassung des Romans von Anna Yeliz Schentke kommt in Bielefeld zur Uraufführung. In Kleiner Mann, was nun? erzählt Hans Fallada berührend vom Abrutschen des Mittelstands in der Wirtschaftskrise 1932 – und setzt ein Plädoyer für Menschlichkeit, Zusammenhalt und Liebe in schwierigen Zeiten. Basierend auf Interviews mit Bewohnerinnen eines Frauenhauses, Opferschützerinnen und einer Rechtsanwältin verdichtet Felicia Zeller in Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt Lebensgeschichten zu einem packenden, rhythmisierten Theatertext über häusliche Gewalt. Einmal Superheld sein! Dieser Traum kann wahr werden – im Hotel der Helden: Georg Böhm, Schauspieler am Theater Bielefeld, hat eine groteske Verwechslungskomödie
geschrieben, die er auch selber inszenieren wird. Berlin in den 1940er- Jahren: Lilly Wust lebt das Leben einer typischen Hausfrau, bis sie die junge Felice Schragenheim trifft. Erica Fischer erzählt in Aimée und Jaguar die bewegende (Liebes-)Geschichte dieser beiden Frauen und zeichnet gleichzeitig ein eindrucksvolles Bild der gesellschaftlichen Realität im Nationalsozialismus. Thomas Hettches Roman über die Augsburger Puppenkiste, Herzfaden, kommt in Bielefeld auf die große Bühne, auf der Schauspieler*innen, Masken und Marionetten
gemeinsam eine Welt voller Wunder erschaffen. Natalka Vorozhbyt erzählt in ihrem Stück non-existent von drei Frauen im Exil, die sich ein neues Leben fern der ukrainischen Heimat aufzubauen versuchen – voller Ernst, voller Witz, oft beides gleichzeitig. Als Wiederaufnahmen sind Die Optimistinnen, Rosige Aussichten und Wolf geplant. Die Artists in Residence des Bielefelder Studios – Sina Ahlers, Zara Ali und
Katharina Mänz – bringen mit Kritter (Arbeitstitel) ein Stück zur Uraufführung, das Musiktheater, Tanz und Schauspiel zu einer HipHopera verbindet.
Die Vermittlungsabteilung ergänzt unter dem Claim Mach mit! die Premieren in Musiktheater, Schauspiel und Tanz mit eigenen Produktionen. So gibt es auch in der kommenden Spielzeit wieder die Community-Dance-Projekte Schrittmacher: Das erste Projekt findet in Zusammenarbeit mit dem TANZ-Jugendclub statt und begibt sich buchstäblich auf Spurensuche. Zu den Fragen, welches Vermächtnis
man hinterlässt und welche Träume sich nicht erfüllen, entsteht ein mehrteiliger Tanzabend. Im Schrittmacher – Power to the people kooperiert das Theater mit der Musik- und Kunstschule zu den Themen Demokratie und Mitbestimmung. Der dritte Schrittmacher wird traditionsgemäß mit den Tänzer*innen des Ensembles von TANZ Bielefeld auf die Bühne gebracht und lehnt sich an den Tanzabend
Everything will be ok an. In der Reihe Parallele Welten präsentieren zwanzig Männer und Frauen zwischen 14 und 70 Jahren mit russischen, türkischen, deutschen, Süd-amerikanischen, syrischen, ukrainischen, tunesischen und kurdischen Wurzeln unter dem Titel Wann ist ein Mann ein Mann ihr eigenes Stück. Natürlich bringen auch der Jugendclub und der Teenclub des Theaters wieder jeweils
eine Produktion mit Aufführungsserie auf die Bühne.
Das Spielzeitheft mit dem gesamten Programm der Saison 2025/26 ist ab
Ende Mai erhältlich. Am 03. Juni startet der Kartenvorverkauf für die ersten
Produktionen.