Die Nebenwirkungen
von Jonathan Spector
Deutsche Übersetzung Frank Heibert
DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG
Premiere Freitag, 14.03.2025 / 19:30 Uhr im Großen Haus
Dauer ca. 2 Stunden, eine Pause
Aufführungsrechte S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main
// BESETZUNG
Don Alexander Wilß
Suzanne Kirsten Potthoff
Carina Azizè Flittner
Meiko Claudia Sutter
Eli David Lukowczyk
Winter Tanja Hundertmark, Jonas Dweik
Regie Kay Neumann / Bühne & Kostüme Monika Frenz / Dramaturgie Eva Veiders / Dramaturgieassistenz Myriam Pechan / Regieassistenz Jessica Zug & Anna-Katharina Gülicher / Regiehospitanz Edda Feldmann / Inspizienz Robert Häselbarth / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Sven Belzer / Programmierung Bühne Pascal Franke & Ann-Sophie Antemann / Beleuchtungsmeister Marcus Krömer / Einrichtung Licht Fabian Cornelsen / Programmierung Licht Georg Rolle / Betreuung Licht Georg Rolle & Laurin Steinhoff & Viviane Wiegers / Ton & Video Till Herrlich-Petry / Requisite Annette Seidel-Rohlf & Sona Ahmadnia / Leitung Kostümabteilung Claudia Schinke / Maske Ulla Bohnebeck & Henriette Masmeier
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Inhalt
Wertschätzung, Achtsamkeit und genderneutrale Sprache für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit – an der Eureka Privatschule wird eine neue Vision von Schule gelebt! Die Kids der Eureka erkennt man bei Fußball-Turnieren am Jubel für die gegnerischen Tore.
Doch dann flattert ein Brief der Schulbehörde ins Haus. Ein Schüler hat sich mit Mumps infiziert und nicht geimpfte Schüler*innen sollen vorläufig vom Unterricht ausgeschlossen werden. Was nun? Eilig beruft die Schulleitung einen Chat mit den Eltern ein, um in der Ausnahmesituation zumindest für Verständnis zu werben. Doch in Nullkommanichts werden aus Ängsten Beleidigungen und aus unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen verfeindete Lager. Wer soll nun noch was entscheiden?
Der kalifornische Dramatiker und Drehbuchautor Jonathan Spector (*1986), der das Stück bereits 2018 verfasst hat, lässt es wie eine harmlos-augenzwinkernde Satire beginnen. Doch die Fragen nach der Deutungshoheit, dem Gemeinwohl und der persönlichen Freiheit, die natürlich stark an die Corona-Zeit erinnern, treiben immer weiter an die Oberfläche und machen deutlich, dass es um nicht weniger als die Demokratie selbst geht.
// Jonathan Spector
Jonathan Spector ist Dramatiker und Drehbuchautor und lebt in Oakland, Kalifornien. Seine Stücke wurden an zahlreichen Theatern in den USA und international gespielt. 2022 hatte sein Stück EUREKA DAY Premiere am Old Vic in London mit Helen Hunt in der Rolle der Suzanne. Für seine Werke ist Jonathan Spector schon mehrfach ausgezeichnet worden, so u.a. mit dem Bay Area Theater Critics Circle Award. Er ist Core Writer am Playwrights Center, MacDowell Fellow und ehemaliger Resident Playwright der Playwrights Foundation. Derzeit arbeitet er für die Roundabout Theater Company, den Manhattan Theater Club und das La Jolla Playhouse und entwickelt ein Fernsehprojekt. Die UK-Premiere seines jüngsten Stücks THIS MUCH I KNOW am Londoner Hampstead Theater fand 2023 statt.
Quelle: https://www.fischer-theater.de/theater/autor/jonathan-spector/t7302169 (zuletzt aufgerufen am 03.03.2025)
// Wir leben in getrennten Universen. Zehn Fragen an Jonathan Spector
Sie haben das Stück Jahre vor der Corona-Pandemie geschrieben, als das Thema Impfungen noch lange nicht so viel öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Bitte erzählen Sie uns ein wenig über die Geschichte Ihres Stücks.
Die Nebenwirkungen habe ich 2016 als Auftrag für ein Theater in Berkeley, Kalifornien, geschrieben, wo ich damals lebte, und meine ursprüngliche Absicht war es, etwas zu schreiben, das sehr spezifisch für diesen Ort war. Es wurde dort 2018 uraufgeführt. Im Jahr 2019 wurde es Off-Broadway und in einigen anderen amerikanischen Städten aufgeführt. Letztes Jahr war es im Londoner West End zu sehen, und ich hoffe, dass es nächstes Jahr an den Broadway kommt.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? Was machte Impfungen damals zu einem interessanten Thema für Sie?
Ich hatte damals mehrere Gespräche mit Freunden oder Bekannten in Berkeley, von denen ich dachte, sie seien mir sehr ähnlich – wir hatten die gleichen politischen Ansichten, hatten die gleichen Schulen besucht und teilten eine Weltanschauung -, in denen ich feststellte, dass sie ihre Kinder nicht geimpft hatten. Ich war so fasziniert davon, wie es sein konnte, dass wir uns in so vielen Dingen so ähnlich sind und in dieser einen Hinsicht in unterschiedlichen Realitäten leben.
Haben Sie seitdem etwas umgeschrieben?
Ich habe während der Proben zur Uraufführung kleine Änderungen vorgenommen, aber wegen Covid wurde nichts geändert, außer der letzten Zeile des Stücks (die eine kleine Andeutung dessen ist, was noch kommen wird).
„Immunität“ ist ein Begriff, der sowohl Sicherheit als auch individuelle Privilegien bezeichnen kann. Wie verstehen Sie das Wort?
Bei Immunität geht es um Schutz. Das „Immunsystem“, wie ich es verstehe, ist weniger ein „System“ im Sinne des Verdauungssystems oder des Hormonsystems als vielmehr eine Metapher für die sich überlagernden Schutzschichten, die der Körper gegen Krankheiten aufbietet (und die von Impfstoffen unterstützt werden können). Dies ist eine gute Metapher für den Schutz, den Privilegien bieten, die auch weniger ein einzelnes zusammenhängendes System als vielmehr eine Reihe sich überschneidender und einander verstärkender gesellschaftlicher Vorteile sind.
Die Mitglieder des Schulrats sind sich des Problems der Minderheiten in einer Demokratie sehr bewusst, um es vorsichtig auszudrücken. Ein großer Teil des komischen Potenzials Ihres Stücks stammt aus dem gemeinschaftlichen Bemühen der Figuren, „niemanden zurückzulassen“. Die Kritik, dass die Herrschaft der Mehrheit in der Demokratie zur Unterdrückung von Minderheiten führen kann, ist sehr alt. Was ist Ihr Standpunkt dazu?
In dem Stück geht es unter anderem um das Spannungsverhältnis, dass diese Schule soziale Gerechtigkeit als einen ihrer zentralen Werte proklamiert, und gleichzeitig eine private Einrichtung ist, die Gebühren erhebt. Letzteres führt zwangsläufig zu Ausschlüssen, so dass die Schule ihrem Wesen nach die eigenen Ansprüche an soziale Gerechtigkeit niemals vollständig verwirklichen kann.
Die Idee hinter Impfungen ist, dass jeder ein vergleichsweise kleines Risiko eingeht, um das Gesamtrisiko für die Gemeinschaft zu verringern. Was sind die Probleme mit diesem Konzept?
Ich bin mir nicht sicher, ob es in diesem Konzept irgendwelche Probleme gibt. Es ist in vielerlei Hinsicht ein Teil der grundlegenden Übereinkunft unserer Gesellschaft. Die Herausforderung besteht darin, wie man entscheidet, wie viel Risiko für die Einzelnen akzeptabel und notwendig sind, und wer diese Entscheidung trifft. Ausschlüssen, so dass die Schule ihrem Wesen nach die eigenen Ansprüche an soziale Gerechtigkeit niemals vollständig verwirklichen kann.
Die Idee hinter Impfungen ist, dass jeder ein vergleichsweise kleines Risiko eingeht, um das Gesamtrisiko für die Gemeinschaft zu verringern. Was sind die Probleme mit diesem Konzept?
Ich bin mir nicht sicher, ob es in diesem Konzept irgendwelche Probleme gibt. Es ist in vielerlei Hinsicht ein Teil der grundlegenden Übereinkunft unserer Gesellschaft. Die Herausforderung besteht darin, wie man entscheidet, wie viel Risiko für die Einzelnen akzeptabel und notwendig sind, und wer diese Entscheidung trifft.
In Ihrem Stück gibt es ein Kind, das vielleicht an einer Impfung gestorben ist, und ein anderes, das sehr krank wird, obwohl es geimpft wurde, aber nachdem es mit einem nicht geimpften Kind in Kontakt gekommen ist. Was antworten Sie jemandem, der zu dem Schluss kommt, dass Ihr Stück sagt: Impfstoffe können tödlich sein und helfen nicht unbedingt?
Während ich das Stück schrieb, war ich zu Beginn sehr besorgt, dass einige Leute zu diesem Schluss kommen würden, aber ich habe festgestellt, dass das nicht der Fall ist. Zum einen glaube ich nicht, dass dies die Sichtweise ist, die das Stück letztendlich vertritt. Das Kind, das von dem ungeimpften Kind angesteckt wurde, wäre geschützt gewesen, wenn dieses Kind geimpft gewesen wäre. An dieser Stelle unterscheiden sich übrigens Covid und die Debatten um den Covid-Impfstoff von Mumps, der Krankheit im Stück. Der Mumps-Impfstoff schützt in hohem Maße sowohl vor einer Infektion als auch vor einer Übertragung, während der Covid-Impfstoff zwar die einzelne Person vor einem schweren Verlauf schützt, die Übertragung aber nicht wesentlich verringert (auch wenn es eine Zeit gab, in der wir hofften, dass dies der Fall sein könnte).
Im Falle des verstorbenen Kindes wissen wir nicht, ob die Impfung die Ursache für den Tod des Kindes war. Die Mutter glaubt, dass es so war, sagt aber auch, dass die Ärzte eine Autopsie durchgeführt haben und ihr sagten, es sei Plötzlicher Kindstod gewesen. Man kann das also interpretieren, wie man will.
Aber insgesamt habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Zuschauer, die das Stück in vielen Aufführungen gesehen haben, eher in ihren bisherigen Überzeugungen bestärkt wurden, als dass sie ihre Meinung geändert hätten. Es gibt jahrzehntelange Untersuchungen, die zeigen, dass es einfach sehr, sehr schwierig ist, die Überzeugungen der Menschen zu diesem Thema zu ändern, daher ist es vielleicht etwas naiv zu glauben, dass ein Theaterstück jemanden überzeugen kann. Das war es, was an der Debatte um den Covid-Impfstoff so „wild“ und unerwartet war. Das Thema wurde (zumindest in den USA) politisch so polarisierend diskutiert, dass viele Menschen tatsächlich ihre Meinung über Impfstoffe änderten. Das war für Soziologen, die sich mit dem Thema Impfgegnerschaft beschäftigen, ziemlich schockierend. Ich denke jedoch, dass es in diesem Fall ein Beweis dafür ist, wie stark der autoritäre Personenkult um Donald Trump bei seinen Anhängern ist. Sobald er sich skeptisch über den Impfstoff geäußert hat und Verschwörungstheorien und Quacksalber-Behandlungen befürwortete, sind sie ihm alle gefolgt. Das Ergebnis ist, dass Republikaner ihre Kinder immer seltener gegen Kinderkrankheiten impfen lassen, was für die öffentliche Gesundheit sehr bedenklich ist.
Im Falle eines toten Kindes scheint das „vergleichsweise geringe“ Risiko untragbar zu sein. Abgesehen von der Frage, woran das Kind in Ihrem Stück gestorben ist, wie viel kann eine Gemeinschaft von einem Einzelnen verlangen?
Ich denke, dies ist eine der schwierigsten Fragen, mit denen sich eine Gesellschaft auseinandersetzen muss.
Diese Frage gilt natürlich nicht nur für Impfungen, sondern beispielsweise auch für Steuern oder für schwere Krisen wie einen Krieg oder das große Thema des Klimawandels. In gewisser Weise scheint es die Grundfrage der Demokratie zu sein. Glauben Sie, dass die Bereitschaft, etwas für das Gemeinwohl beizutragen oder aufzugeben, nachlässt?
Ich sehe das eher folgendermaßen: Die Grundidee der modernen Demokratie, die auf die Aufklärung zurückgeht, war, dass vernünftige Menschen zusammenkommen und sich in einer fairen Debatte darüber einigen, was das Beste für die Gesellschaft ist. Das funktioniert aber nur, wenn alle Parteien in gutem Glauben handeln und von denselben grundlegenden Fakten ausgehen. Wir leben zunehmend in einer Welt, in der die Menschen in völlig getrennten Universen von Fakten leben. Im Falle der Vereinigten Staaten haben wir es mit einer republikanischen Partei zu tun, deren Blick auf die Realität von einer massiven Propagandamaschinerie geprägt ist und für die das Handeln in zynischer Bösgläubigkeit zu einem Punkt des Stolzes für viele gewählte Vertreter geworden ist. So kann keine zukunftsfähige Demokratie bestehen.
Und wenn das so ist: Was ist zu tun?
Es ist sehr beängstigend.
Die Fragen stellte Sebastian Huber.
Quelle: Originalbeitrag aus dem Programmheft „Die Nebenwirkungen“, Burg Wien, S.6-8. Es ist sehr beängstigend.
Die Fragen stellte Sebastian Huber.
Quelle: Originalbeitrag aus dem Programmheft „Die Nebenwirkungen“, Burg Wien, S.6-8.
// Übersetzer Frank Heibert im Gespräch mit Barbara Neu über das amerikanische Erfolgsstück „Die Nebenwirkungen“
Jonathan Spectors preisgekröntes Erfolgsstück EUREKA DAY (deutsch: DIE NEBENWIRKUNGEN) kommt nach Inszenierungen in New York und London im Herbst dieses Jahres als deutschsprachige Erstaufführung ans Burgtheater Wien. Barbara Neu sprach mit dem Übersetzer des Stücks, Frank Heibert, über die großen Stärken dieses Gesprächskatalysators und über die Herausforderungen, die die Übersetzung an ihn stellte.
Barbara Neu (BN): Jonathan Spectors Stück Die Nebenwirkungen (Eureka Day) spielt an einer kalifornischen Privatschule, deren Eltern- und Lehrerschaft sich für liberal, inklusiv, woke und sensibel hält und sich als eine ganz auf Konsens basierende Community sieht, bis ein Mumps-Ausbruch an der Schule diesen Konsens ins Wanken bringt und zum Thema Impfpflicht ein heftiger Konflikt ausbricht. Was war Dein erster Eindruck von Eureka Day, als Du die Übersetzung übernahmst?
Frank Heibert (FH): Ich war sofort begeistert von dem Stück. Denn „Die Nebenwirkungen“ von Jonathan Spector ist ein kunstvoller Tanz über vermintes Gelände: Wie halten wir es mit allem, was heute unter „woke“ subsumiert wird und sofort starke Meinungen herausfordert? Sind „gute“ Menschen immer gut, auch wenn sie es gut meinen, und machen sie es wirklich immer gut? Natürlich nicht, wie auch. Spector geht mit seinem Parcours, der zuerst Karikaturen zeichnet und dann die Menschen dahinter sichtbar macht, ein Wagnis ein; er gewinnt die Wette, weil er auf einfache Antworten verzichtet und uns alle einlädt, weiter zu debattieren über ein brandaktuelles und komplexes gesellschaftspolitisches Thema.
BN: Das Stück besteht praktisch nur aus Diskussionen – am Anfang und am Ende die in der kleineren Runde des Schul-Elternbeirats, in der zentralen großen Szene die in einer digitalen Schulkonferenz. In diesen Diskussionen ist die Sprache selbst oft von zentraler Bedeutung und somit eine besondere Herausforderung für die Übersetzung, nehme ich an.
FH: Die Sprache als Repräsentation des Denkens und als Behauptung, wie die Realität sei, spielt bei jeder „woke“-Debatte eine große Rolle. Was sollte man wie sagen oder gerade nicht mehr sagen? Wie lässt sich überfälliger Respekt für die Anderen und für das Andere möglichst „richtig“ in Sprache fassen? Und wie formulieren sich Macht und Manipulation, die natürlich nicht verschwinden, nur weil die Sprache kritisch weiterentwickelt wird? All das ist höchst relevant für die Übersetzung eines solchen Stückes. Im deutschsprachigen Raum ist der „woke“ Jargon teils übersetzt, teils Englisch, teils anglizistisch, teilweise sind auch andere Wörter viel triggerträchtiger. Hier hat die Hintergrundrecherche mindestens ebenso viel Spaß gemacht wie das Übersetzen selbst.
BN: Was an DIE NEBENWIRKUNGEN so besticht, ist seine so gelungene Synthese aus Sittenkomödie auf der einen Seite und der ernsthaften Befragung der Grenzen zwischen individueller Freiheit und den Interessen der Gemeinschaft auf der anderen Seite. Diese gesellschaftspolitische Debatte wird in der Realität wie im Stück ja mit großem Ernst geführt. Wie The Guardian es anlässlich der Londoner Premiere formulierte: „Was als umfassende Abrechnung mit der liberalen Linken beginnt, entwickelt sich zu einer fesselnden und strukturierten Debatte über soziale Gerechtigkeit, Impfungen und die Anziehungskraft von Verschwörungstheorien.“ Das ist — wie so oft, wenn jemand nicht nur ein Thema, sondern auch sich selbst sehr ernst nimmt — auch eine Steilvorlage für Komik. Wie nutzt Jonathan Spector sie?
FH: Jeder Text, der mit Komik operiert, braucht neben den inhaltlichen Elementen, die er zuspitzt, präzises Timing. Bewundernswert und zugleich unverhandelbare Vorgabe für die Übersetzung ist Spectors „Choreografie“ der Dialoge: Schlagabtausch, Staccato, Sich-Unterbrechen, Hinauszögern, Nicht-Aussprechen, Durcheinander-Reden. Dazu kommen als Quelle von Chaos und Komik die neuen Kommunikationsformen, nur allzu vertraut seit der Pandemie: eine virtuelle Konferenz mit Live-Gespräch und gleichzeitigem Chat. Das Feuerwerk der zentralen Szene braucht, um zu funktionieren, dieselbe Präzision auch in der Übersetzung, was schon allein wegen der Unterschiede des englischen und deutschen Satzbaus vor spannende Herausforderungen stellt. Ich kann es nicht erwarten, das auf der Bühne zu erleben.
Quelle: https://www.fischer-theater.de/ftm/home?template=tt_default_wrapper&_content_template=tt_hoerspiel_detail&id=1728838
// Eula Biss: Immunität
Das Konzept der „gegenwärtigen Gefahr“ wurde früher immer dann angewendet, wenn es um Zwangsimpfungen in Epidemiezeiten ging. Der Begriff des „Verweigerers aus Gewissensgründen“, der heutzutage vor allem im Kontext der Kriegsdienstverweigerung auftaucht, bezog sich ursprünglich auf alle, die die Impfung verweigerten. Der Compulsory Vaccination Act von 1853 verlangte in Großbritannien die Impfung aller Säuglinge – und traf auf breiten Widerstand. Als ein ergänzendes Gesetz die wiederholte Geldstrafe für Verweigerer erlaubte, wurde denjenigen, die nicht bezahlen konnten, der Besitz gepfändet und versteigert – oder sie mussten gleich ins Gefängnis. 1898 fügte die Regierung dem Gesetz eine Gewissensklausel hinzu, die es Eltern erlaubte, eine Ausnahme zu beantragen. Indem sie von Impfgegnern lediglich verlangte, einen Richter davon „zu überzeugen“, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen erfolge, war diese Klausel einigermaßen vage formuliert. Und führte zu Tausenden von Verweigerungsfällen – in manchen Gemeinden war die Mehrheit aller Geburten betroffen – sowie zu einer breiten Debatte darüber, was „Gewissen“ genau bedeutete. Bevor der Begriff „Verweigerung aus Gewissensgründen“ („conscientiuos objection“) seinen Weg ins Gesetz fand, wurde er von Impfgegnern benutzt, die sich absetzen wollten von Eltern, die ihre Kinder fahrlässig und ohne groß nachzudenken hatten impfen lassen. Das Wort conscientious (gewissenhaft) sollte signalisieren, dass fürsorgliche Eltern vorsätzlich eine andere Entscheidung trafen. Die Verweigerer argumentierten, man könne und solle ein Gewissen nicht bewerten, und die Richter ärgerten sich mit dem Problem herum, ob man für einen behaupteten Gewissenskonflikt Beweise verlangen könne oder nicht. „Ich begreife dieses Gesetz nicht“, machte ein Richter seinem Frust Luft. „Ich habe Sie jetzt angehört, und Sie haben mir gesagt, dass Sie die Impfung aus Gewissensgründen ablehnen. Aber ob das reicht, weiß ich nicht.“ Irgendwann wurde das Wort überzeugen aus der Gewissensklausel gestrichen. Dafür bestimmten mehrere Vermerke, ein Verweigerer müsse zwar der „ehrlichen“ Überzeugung sein, dass eine Impfung seinem Kind schade, müsse diese Überzeugung aber nicht „vernünftig begründen“. In der Parlamentsdebatte zu dem Gesetz befanden die Abgeordneten, die Definition von Gewissen sei überaus schwierig. Seit der Einführung der Gewissensklausel bis heute hat das Oxford English Dictionary den Begriff Gewissen konsequent im Rahmen von richtig oder falsch definiert. Heute steht in der allerersten Definition: „Das Empfinden von richtig oder falsch in Bezug auf die Dinge, für die man Verantwortung trägt.“ In den nächsten sechs Definitionsansätzen kommen ethische Werte, Gerechtigkeit, Gleichheit, richtige Urteile, Skrupel, Wissen, Erkenntnis und Gott vor, und in die achte und neunte Definition schaffen es dann noch die Gefühle und das Herz, allerdings mit dem Zusatz „selten“ oder „veraltet“. Lange bevor das Impfen zur Gewissensfrage wurde, schlug sich schon George Washington, selbst ein Überlebender der Pocken, mit der Frage herum, ob von einem Revolutionssoldaten die Inokulation verlangt werden solle oder nicht. Während der Belagerung von Quebec erkrankte 1775 ungefähr ein Drittel der Kontinentalarmee an den Pocken. Was irgendwann den Rückzug erforderlich machte – auf dem Schlachtfeld die erste Niederlage in der Geschichte der USA. Die tödlichste Pockenepidemie in den Kolonien war dabei, ihre 100.000 Todesopfer zu fordern, während die meisten britischen Soldaten, die die Krankheit in England, wo sie endemisch auftrat, schon als Kinder gehabt hatten, immun dagegen waren. Das alles fand statt, bevor die Impfung erfunden wurde, und Washington schreckte davor
zurück, seine Truppen der Inokulierung zu unterwerfen, die bekanntermaßen gefährlich und in manchen Kolonien sogar illegal war. Mehrere Male befahl er die Inokulierung, nur um den Befehl wenige Tage später wieder zurückzunehmen. Als aber Gerüchte aufkamen über Pläne der Briten, die Pocken als eine Art biologische Kriegsführung einzusetzen, befahl Washington die definitive Impfung aller Rekruten. Wir verdanken also die Existenz der US-amerikanischen Nation in gewisser Weise der Zwangsimpfung. Zu ihrem gegenwärtigen Charakter beige-tragen hat aber ganz sicher auch der Widerstand dagegen. Frühe Impfgegner gehörten mit zu den Ersten, die auf dem Rechtsweg die wachsende Handlungsmacht der Polizei anfochten. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir nicht mehr mit vorgehaltener Pistole geimpft werden dürfen. […] In den Vereinigten Staaten hat es noch nie eine bundeseinheitliche, gesetzlich festgeschriebene Impfpflicht gegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es diese Pflicht in einzelnen Bundesstaaten, in zwei Dritteln aller Staaten allerdings nicht – zwei Staaten hatten sogar Gesetze gegen die Zwangsverpflichtung. In manchen Schulbezirken verlangte man – wie heute auch – die Impfung, wenn Kinder eine öffentliche Schule besuchen wollten, aber oft wurde diese Regel nicht konsequent durchgesetzt. In den USA war um die Jahrhundertwende ein neuer, milderer Pockenstamm aufgetreten. Nachdem die Pocken deutlich weniger Opfer forderten, wurde die vormals unorganisierte Impfgegnerschaft zu einer von Aktivistinnen wie Lora Little angeführten Anti-Impf-Bewegung. Little gab Selbstermächtigungsratschläge wie diesen: „Seien Sie Ihr eigener Arzt. Warten Sie Ihre Maschine selbst.“ In manchen Städten wurden die Impfärzte von bewaffneten Menschenmengen vertrieben. Auch der Journalist Arthur Allen hält fest:
„Impfaufstände waren damals alles andere als ungewöhnlich.“
Lange bevor der Begriff Immunität im medizinischen Kontext benutzt wurde, kam er im juristischen Feld zum Einsatz, wo er für die Befreiung vom Wehr- oder Staatsdienst bzw. von Steuerabgaben stand. Im späten 19. Jahrhundert dann, als einzelne Bundestaaten die Impfpflicht einführten, bedeutete Immunität schon beides: die Unanfälligkeit für Krankheiten sowie die Befreiung von staatlichen Pflichten. In einer eigenartigen Bedeutungskollision war die durch die Gewissensklausel ermöglichte Ausnahme von der Impfimmunität selbst eine Art Immunität. Und bis heute ist es ein gesetzlich gesichertes Privileg, sich selbst die Ungeschütztheit vor bestimmten Krankheiten herauszunehmen. Etymologische Wörterbücher beiseitegelegt. Was es bedeutet, über ein Gewissen zu verfügen, ist uns heute wahrscheinlich auch nicht klarer als den Menschen 1898. Es fällt zwar auf, wenn es nicht da ist – dann sagen wir: Sie ist gewissenlos. Aber was fehlt genau, wenn kein Gewissen da ist? Ich frage meine ehemalige Professorin, eine Schriftstellerin, die zum Alten Testament als literarischem Werk lehrt, wie man sein eigenes Gewissen erkennen soll. Sie blickt mich streng an und sagt dann: „Dieses Gefühl ist doch sehr eindeutig. Ich glaube nicht, dass man ein sich meldendes Gewissen leicht mit einem anderen Gefühl verwechseln kann.“ Meine Schwester, die an einem Jesuitenkolleg Ethik unterrichtet und Mitglied der North American Kant Society ist, meint: „Die Sprache kann genauso wenig reine Privatangelegenheit sein wie eine moralische Norm, und die Gründe dafür sind quasi deckungsgleich. Man kann eben nicht nur für sich selbst verständlich sein. Wenn man aber über das Gewissen als einen privaten Sinn für Recht und Unrecht nachdenkt, bekommt es den Anschein, als ob unser kollektives Verständnis von Gerechtigkeit hin und wieder unzureichend sein kann. Sicherlich kann ein Einzelner Widerstand leisten gegen Fehler im herrschenden gesellschaftlichen Normgefüge und so Verbesserungen und Reformen möglich machen. Dafür gibt es in der Geschichte
zahlreiche Beispiele. Man kann das Gewissen aber auch genau andersherum deuten:
als eine innere Stimme, die das eigene Handeln auf Kurs hält mit den öffentlich
vertretbaren ethischen Standards.“
Eine der Segnungen der durch Schutzimpfungen erzielten Immunität ist, dass eine kleine Bevölkerungsgruppe auch nicht geimpft sein kann und trotzdem keinem deutlich erhöhten Risiko aussetzt. Aber wie groß diese Gruppe sein darf – wann also die Schwelle erreicht ist, an der die Herdenimmunität verloren geht und das Erkrankungsrisiko sowohl für Geimpfte wie für Nichtgeimpfte wieder drastisch ansteigt -, ist sehr unterschiedlich und hängt mit der betreffenden Krankheit, dem Impfstoff und der jeweiligen Bevölkerung zusammen. In vielen Fällen kennen wir diese Schwelle erst, nachdem wir sie überschritten haben. Was wiederum die Verweigerer aus Gewissensgründen in die prekäre Lage bringt, potenziell den Ausbruch einer Epidemie zu befördern. An diesem Punkt gehen wir möglicherweise in die Falle dessen, was Ökonomen einen Moral Hazard nennen, eine moralische Versuchung, die uns zu risikoreichem Verhalten verführt, sobald wir gegen das betreffende Risiko versichert sind. Unser Rechtssystem erlaubt es einer gewissen Anzahl von Menschen, aus medizinischen, religiösen oder philosophischen Gründen die Impfausnahme für sich in Anspruch zu nehmen. Aber ob wir zu dieser Zahl gehören wollen oder nicht, ist nichts anderes als eine Gewissensentscheidung. In einem Kapitel mit der Überschrift „Steht es in Ihrer sozialen Verantwortung, Ihre Kinder impfen zu lassen?“ stellt Dr. Bob in seinem Vaccine Book die Frage: „Darf man Eltern denn vorwerfen, dass ihnen die Gesundheit ihres Kindes wichtiger ist als die der Kinder in seinem Umfeld?“ Was natürlich eine rhetorische Frage ist. Dr. Bobs Antwort darauf lässt sich recht einfach herauslesen. Meine Antwort wäre es nicht. In einem anderen Kapitel gibt Dr. Bob Eltern, die die Masern-Mumps-Röteln-Impfung kritisch sehen, folgenden Rat: „Ich warne davor, über diese Ängste mit den Nachbarn zu sprechen, denn wenn zu viele Menschen vor der MMR-Impfung zurückschrecken, werden die betreffenden Krankheiten wahrscheinlich wieder deutlich auftreten.“ Ich brauche keine Ethikerin, um zu merken, dass hier irgendetwas nicht stimmt, aber trotzdem ist es meine Schwester, die mein Unbehagen auf den Punkt bringt: „Das Problem ist, dass man eine Ausnahme macht, allerdings nur für sich selbst.“ Was sie an die von dem Philosophen John Rawls vertretene Denkweise erinnere: Man stelle sich vor, seine gesellschaftliche Stellung nicht zu kennen – also nicht zu wissen, ob man reich ist oder arm, gebildet oder versichert oder ob man Zugang zur Gesundheitsversorgung hat, ob man ein Baby ist oder ein Erwachsener, ob man HIV-positiv ist oder ein intaktes Immunsystem hat etc. In dieser Situation würde sich jeder für eine Politik der Gleichberechtigung aussprechen, ganz unabhängig davon, in welcher Position man sich letzten Endes befindet. „Wir sollten lieber in Abhängigkeitsverhältnissen denken“, meint meine Schwester. „Unser Körper ist ja nicht unser Privateigentum – wir sind einfach nicht körperlich unabhängig voneinander. Unser körperliches Wohlergehen steht immer im Zusammenhang mit Entscheidungen, die auch andere betreffen.“ Hier kommt sie kurz ins Stocken, ihr fehlen die Worte – und das kommt nicht gerade häufig vor bei ihr. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, meint sie dann. „Aber der Punkt ist: Es gibt immer noch die Illusion der Unabhängigkeit.“
Quelle: Eula Biss: Immun. Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung. Übersetzt aus dem Deutschen von Kirsten Riesselmann. Hanser 2016, S. 15-17.
Eine Skizzierung der Pädagogik an Freien Alternativschulen
Das Entstehen der Freien Alternativschulen steht im Zusammenhang mit den zuvor benannten Modernisierungsprozessen und des Wandels von Kindheit.
Auf die erweiterten Spielräume für individuelle Freiheiten bei gleichzeitigem Zwang zu mehr Eigenverantwortlichkeit reagieren Freie Alternativschulen, indem sie Kindern und Jugendlichen größere Freiheitsräume bieten. Für Kinder gibt es nämlich einen großen Nachholbedarf, was ihre Freiheiten und Rechte im Schulbereich angeht. Gleichzeitig fordern Freie Alternativschulen Kindern mehr eigenverantwortliches Handeln ab. Die Grundlage für eine entsprechende Praxis ist das pädagogische Prinzip des Unterrichts in differenzierter Angebotsform. In der Praxis heißt das für einige Freie Alternativschulen, daß die Kinder an keinem Unterrichtsangebot verbindlich teilnehmen müssen. An den meisten Freien Alternativschulen aber gibt es eine Mischung aus freien Angeboten und solchen, an denen die Kinder verbindlich teilnehmen. Zu den größeren Freiheitsräumen für Kinder gehören aber auch die weitgehende Individualisierung des Lernens durch Binnendifferenzierung, Freiarbeit, Wochenplanarbeit, von Schülern und Schülerinnen selbst gewählte, oft auch selbstorganisierte Aktivitäten, die von Erwachsenen nicht gelenkt oder kontrolliert werden. Mehr Freiheiten, aber auch mehr Eigenverantwortung haben Kinder an Freien Alternativschulen außerdem in der Hinsicht, daß sie viel mehr Möglichkeit der Mitbestimmung über wesentliche Angelegenheiten des Schulalltags haben. Das gilt zum Beispiel bei der Erarbeitung von Regeln für das Schulleben, bei der Planung von Lernangeboten, bei der Gestaltung ihrer Klassenräume usw.
Aus der zunehmenden Brüchigkeit in den Beziehungen von Kindern zu Erwachsenen ziehen Freie Alternativschulen die Konsequenz, daß sie Kindern ein hohes Maß an Geborgenheit und Verläßlichkeit im Umgang mit Erwachsenen bieten. Freie Alternativschulen sind immer kleine, überschaubare Schulen mit kleinen Klassen, die in aller Regel maximal zwanzig Kinder haben. Diese Klassen werden über lange Jahre von einer kleinen Gruppe Erwachsener betreut, so daß ein wirklich enger Kontakt zustandekommt. An Freien Alternativschulen hält man es für unmöglich, daß in Klassen mit dreißig Kindern und mehr das einzelne Kind wirklich zu seinem Recht kommt, bei den Erwachsenen Nähe zu finden. Geborgenheit bedeutet an Freien Alternativschulen des weiteren: Die Freiheit von Leistungsdruck und Schulangst, weil Zensuren, Sitzenbleiben und andere konkurrenzfördernde Gewohnheiten der Staatsschulen abgeschafft sind, eine Rhythmisierung des Tagesablaufs mit Fixpunkten, die den Kindern eine sichere zeitliche Orientierung ermöglicht, die Einrichtung von Klassenräumen, in denen Kinder sich wohlfühlen können und nicht zuletzt viel Zeit dafür, daß Kinder und Erwachsene sich außerhalb von Unterrichtssituationen begegnen können. Diese einzelnen Elemente schaffen zusammen ein friedliches Schulklima, eine dichte Nähe zwischen Kindern und Erwachsenen und eine große Offenheit im Umgang untereinander.
Freie Alternativschulen widersetzen sich der Einschränkung von Freiräumen für Kinder und der Erfahrungsverarmung bei gleichzeitigem massenmedialen Überangebot von Pseudoerfahrungen. Sie bieten die Möglichkeit, in entsprechend eingerichteten Räumen und auf dem Schulgelände selbsttätig Erfahrungen zu machen. Dabei kommt dem freien Spiel, für das es an Freien Alternativschulen sehr viel Zeit gibt, und das von den Erwachsenen nicht gelenkt oder kontrolliert wird, eine besondere Bedeutung zu. Im freien Spiel zeigt sich die lebendige Kreativität der Kinder, ihr Einfallsreichtum, aber auch, was Kinder an Sorgen und Nöten bewegt, die sie spielend verarbeiten.
Spielen wird an allen Freien Alternativschulen als wichtiger und selbständiger Lernprozeß der Kinder begriffen und nicht lediglich als Abwechslung oder gelegentliche Bereicherung des Unterrichts. Die Vielfalt der Möglichkeiten zur Eigentätigkeit an Freien Alternativschulen zeigt sich des weiteren im hohen Zeitanteil für musische und handwerkliche Tätigkeiten sowie an der Selbstverständlichkeit, daß in diesen Schulen viel getobt wird und Körperkräfte ausgelebt werden.
Der Tendenz zur Kleinstfamilie, die die Möglichkeit von Kindern einschränkt, Erfahrungen mit Kindern unterschiedlichen Alters zu machen und sie auf Erwachsene fixiert, setzen die meisten Freien Alternativschulen die Begegnungsmöglichkeit in altersgemischten Lerngruppen entgegen. Das führt zu einer Reduzierung der Angewiesenheit der Kinder auf die Erwachsenen, weil Kinder unterschiedlichen Alters voneinander lernen und auf diese Art viele Angelegenheiten selbst regulieren können.
Modernisierungsprozesse in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt führen zu immer höheren Ansprüchen an Wissensvermittlung und Auslese im Schulwesen. Freie Alternativschulen widersetzen sich dieser Tendenz. Denn:
„Bildung kann einen Beitrag leisten zur Weiterentwicklung einer humanen Gesellschaft und zur Entwicklung jedes einzelnen Menschen. Die auf Entwicklung und Zukunft gerichteten Intentionen der Erwachsenen aber dürfen den Respekt vor dem kindlichen Menschen und sein Recht auf hier und jetzt erlebtes Glück nicht überlagern oder gar niederdrücken. Eine entsprechende Haltung darf nicht nur behauptet werden, denn allzu leicht geraten entsprechende Begründungen zur rechtfertigenden Ideologie für Erwachsenenverhalten. Vielmehr muß eine solche Haltung für Kinder täglich erfahrbar sein.“
In diesem Sinne begreifen alle Freien Alternativschulen Kindheit als eigenständige Lebensphase mit dem Recht auf Selbstbestimmung, Glück und Zufriedenheit, nicht etwa nur als Trainingsphase für das Erwachsenendasein.
Dem Traditionsverlust im Schulwesen begegnen Freie Alternativschulen durch eigene Wertsetzungen und eigene Zielhierarchien. In ihnen rangiert das Glück und Wohlbefinden des einzelnen Kindes vor den normierten Ansprüchen, die staatliche Instanzen durchsetzen wollen. Soziales Lernen wird als wichtiger erachtet als die möglichst umfangreiche Anhäufung von Wissen.
Freiheit und Eigenverantwortung wird eine höhere Wichtigkeit zugemessen als der karrieristischen Anpassung von Kindern und Jugendlichen durch Einübung in Konkurrenzverhalten.
Dies sind gemeinsame Gewißheiten, die für alle Freien Alternativschulen gelten. Für diese Überzeugungen treten sie ein, lassen sich von staatlichen Behörden verfolgen, kämpfen gegen Vorurteile und gegen ihre chronische Finanznot.
Das alles ist gut und wichtig nicht nur um der Kinder selbst willen, sondern auch deshalb, weil die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und Zukunft zu ihrer Lösung Menschen brauchen, die freiheitsliebend, verantwortungsbewußt und demokratiefähig sind. Eine solche Haltung zu erwerben, das zeigen die Erfahrungen der Freien Alternativschulen, sind Kinder schon im Schulalter durchaus in der Lage.
Quelle: Manfred Bochert: Kindheit in modernen Industriegesellschaften und die Arbeit der Freien Alternativschulen In: Freie Alternativschulen: Kinder machen Schule. Innen- und Außenansichten. Herausgegeben vom Bundesverband der Freien Alternativschulen, Wolfratshausen 1992,S. 198-201.