Kommentar von W. Sauter
Echt Brecht
Zwischen epischem und kulinarischem Theater
Jan Steinbach inszeniert „Dreigroschenoper“
Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie?
Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?
Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?
Klingen ziemlich heutig, diese Statements, oder? Ob wohl der ganze Text so ist? – Schau’n w’r mal!
Die Story: Bettler, Huren, Gangster
Wir befinden uns in Soho, heute Schicki-Micki-, aber noch in meiner Jugend eines der verrufensten Viertel von London. Hier spielt „The Beggar‘s Opera“, die „Bettleroper“, mit welcher der Satiriker John Gay und der Komponist Johann Christoph Pipusch vor knapp 200 Jahren Erfolge feierten. Und hier spielt die „Dreigroschenoper“, die Bertolt Brecht vor nicht ganz 100 Jahren aus dieser „Bettleroper“ gemacht hat und die – mit der Musik von Kurt Weill – zum Welterfolg geworden ist.
Wir rühren im Bodensatz der Gesellschaft: zwischen Bettlern, Gangstern und Huren. Der „gute Christ“ Peachum führt die Agentur „Bettlers Freund“, mit deren Hilfe es ihm gelingt, auch noch die Ärmsten der Armen auszubeuten. Der Gangsterboss Macheath, berüchtigt unter dem „Künstlernamen“ Mackie Messer, hat es geschafft, Peachums Tochter Polly zu verführen. In einem okkupierten Pferdestall, mit Diebesgut prächtig ausstaffiert, feiern die beiden Hochzeit. Stargast: Tiger Brown, in Ganovenkreisen gefürchteter Polizeichef, aber Jugendfreund und Kriegskamerad von Mackie Messer.
Peachum will seine Tochter nicht hergeben, schon gar nicht an Mackie Messer. Er fürchtet nicht nur um seine Altersversorgung, sondern auch um sein Geschäftsmodell („Glaubst du, dass unser Dreckladen noch eine Woche lang geht, wenn dieses Geschmeiß von Kundschaft nur u n s e r e Beine zu Gesicht bekommt?“). Und Peachum verfügt über Druckmittel, mit denen er Tiger Brown zwingen kann, seinen Freund Mackie zu verhaften. Der wird zwar von Polly gewarnt und will fliehen – aber zuvor will er noch seinen üblichen „Donnerstag“ bei seinen Huren verbringen. Doch Jenny, seine Lieblingshure, wird von Frau Peachum bestochen und liefert Mackie der Polizei aus.
Im Gefängnis trifft Mackie auf Tiger Browns Tochter Lucy – praktischerweise auch eine seiner Bräute, die ihm zur Flucht verhilft. Das Ganze wiederholt sich: Erneuter Besuch Mackies bei den Huren, erneuter Verrat, erneute Verhaftung. Und Peachum droht dem Polizeichef: Sollte es jetzt nicht klappen mit dem Hängen, dann wird er eine Armee seiner Elenden auf den Festzug hetzen, der anlässlich der Krönung der jungen Königin ansteht („Wissen Sie, was eine Gesichtsrose ist? Aber jetzt erst 120 Gesichtsrosen? Und diese Verstümmelten am Kirchenportal …“). Also: „Herr Macheath wird aufgehängt“.
Jedoch:
„Damit ihr wenigstens in der Oper seht
Wie einmal Gnade vor Recht ergeht …
Wird jetzt der reitende Bote des Königs erscheinen:
… ‚Anlässlich ihrer Krönung befiehlt die Königin, dass der Captain Macheath freigelassen … und in den Adelsstand erhoben … und mit Schloss Marmarel sowie einer Jahresrente von 10.000 Pfund“ ausgestattet wird.
So märchenhaft dieses Ende ist, so realistisch und beachtenswert ist die abschließende Warnung:
„Die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten, wenn die Getretenen widergetreten haben.“
Der Dichter und sein Werk: kulinarisch oder politisch?
Die „Dreigroschenoper“ bildet einen Wendepunkt im Leben Brechts – in doppelter Hinsicht: Einmal macht sie ihn durch ihren Welterfolg zu Theater-Star, was sich auch finanziell auszahlt.
Zum andern steht dieses Stück von 1928 wie kein zweites für Brechts „episches Theater“. Zwar hat er damit schon früher gearbeitet (etwa Anfang der 20er Jahre in „Trommeln in der Nacht“ mit der berühmten Aufforderung ans Publikum: „Glotzt nicht so romantisch!“). Aber rund um den „Dreigroschenkomplex“ (neben der -oper auch Dreigroschenfilm, -roman sowie grundsätzliche, theoretische Werke bis hin zum Dreigroschenprozess) hat Brecht noch jahrelang an dem Thema gearbeitet und darum gestritten.
In einem berühmten Schema stellt Brecht die epische Form des Theaters der dramatischen Form gegenüber. Demnach „verwickelt (das dramatische Theater) den Zuschauer in eine Bühnenaktion, ermöglicht ihm Gefühle und konserviert seine Empfindungen“, wohingegen das epische Theater „seine Aktivität weckt, von ihm Entscheidungen erzwingt und ihn zu Erkenntnissen treibt“.
Aber das führt zu weit. Hier soll eine kurze Erklärung (in Anlehnung an Hensel) genügen:
Der Zuschauer soll gesellschaftliche Kritik an der Bühnenhandlung üben, soll die Einsicht gewinnen, dass die Welt verändert werden muss – und verändert werden kann. Und der Zuschauer soll an dieser Veränderung mitwirken. Damit das gelingt, darf der Zuschauer nicht mehr „kulinarisch“ genießen; er soll sich nicht mehr in die Handlung einfühlen, sondern sie kritisch betrachten. Für die Theaterpraxis bedeutet dies: Man muss den Zuschauer immer von Neuem aus der Illusion herausreißen, um ihn zum Nach- und Weiterdenken zu bringen.
Der Dichter und der Regisseur: Respekt vor Brecht
Im Interview (s. Programmheft) bekennt Regisseur Jan Steinbach, dass dies seine erste Brecht-Inszenierung ist und erklärt, „dass man durchaus Respekt haben kann, die Dramen dieser sehr wichtigen Theaterpersönlichkeit auf die Bühne zu bringen.“ Gleichzeitig habe es ihn „schon immer fasziniert“, wie Brecht das Theater denkt, „nämlich das Theatermachen offen zu legen, dem Publikum immer wieder klar zu machen, dass es im Theater sitzt.“
Der Regisseur und das Stück: Steinbachs Inszenierung
Der Respekt, den Steinbach gegenüber Brecht bekundet, zeigt sich in seiner Inszenierung.
Zunächst: Er lässt den Text so, wie Brecht ihn geschrieben hat. Da gibt’s ein paar kleine Kürzungen (etwa die dramaturgische Vorbereitung auf Pollys Seeräuber-Jenny-Ballade). Auffälliger: Pastor Kimball ist gestrichen. Die Hochzeit muss ohne geistlichen Beistand stattfinden. Eine Personalsparmaßnahme? Da wiegt die Kürzung bei der Zahl der Bettler, der Ganoven und der Huren fast schwerer – wenn auch nicht inhaltlich, so doch atmosphärisch. Und inhaltlich ist auch der Pfaffe verzichtbar. Zu Brechts Zeit mag ein Mädchen aus (möchtegern-)bürgerlichem Haus noch Wert auf eine kirchliche Hochzeit gelegt haben. Aber heute? Und ehrlich – auch im Originaltext hat der Pastor keine (liturgische) Funktion, ist lediglich Statist und allenfalls Bestandteil eines Witzes (aber auch den Witz mit Fisch/Messer/Lachs versteht heute – da Fischbestecke aus der Mode gekommen sind – nur noch ein guter Knigge-Kenner).
Und dann spielt Steinbach – fast möchte man sagen: bemüht, aber nein, sagen wir: gekonnt – auf der Klaviatur des epischen Theaters: Genau so, wie vom Meister vorgesehen, treten die Mitwirkenden auch bei Steinbach immer wieder aus dem Handlungsfluss heraus, kündigen die folgenden Nummern an, tragen die teilweise recht ausführlichen Szenen-Überschriften vor, wenden sich immer wieder direkt ans Publikum.
Natürlich setzt Steinbach dazu auch fleißig Brechts geliebten Verfremdungseffekt ein: Von Anfang an: wenn zwei Ganovendarsteller als eine Art Zufallsgäste auftauchen, die nur mühsam dazu gebracht werden, die „Moritat von Mackie Messer“ zu radebrechen, daherzustottern und erst ab etwa der fünften Strophe in ihre Rolle als Sänger hineinfinden. – Und bis zum Ende: wenn die alkohol-affine Frau Peachum selbst zum Applaus noch ziemlich beschickert daherstolpert …
Ein Höhepunkt ist natürlich die Schlussszene: Bisher hatten wir eine Art Singspiel (den Begriff „Musical“ gab’s damals ja noch nicht) mit der „sehr vielfältigen Musik“ von Kurt Weill mit „Anleihen aus Jazz, Swing und Zirkusmusik“ (Dramaturgin Katrin Aissen im Programmheft). Jetzt sind wir plötzlich mit dem Chor („Horch, wer kommt!“) stilistisch mitten in der klassischen Oper, während gleichzeitig das klassische Element des „Deus ex machina“ durch „des Königs reitenden Boten“ geradezu brutal persifliert wird.
Ausstattung
Franz Dittrichs Bühnenbild fügt sich in das Konzept „episches Theater“ ein: Zwei stilisierte Gebäude, mal vor- und mal zurückgedreht, enthalten die Schauplätze: Peachums Bettler-Agentur, Macheaths Pferdestall, das Bordell. – Fürs Gefängnis reicht ein eiserner Käfig, der dann auch zum Richtplatz wird.
Carla Nele Friedrichs Kostüme mögen hie und da an die Entstehungszeit, die „goldenen 1920er Jahre“ erinnern, sind aber im Grund zeitlos und zeichnen sich eher dadurch aus, dass sie die Charaktere der Darsteller akzentuieren.
Die Darsteller
Paul Enev ist ein gestylter Gangsterboss, der es nur unzulänglich schafft, seine Brutalität hinter einem aufgesetzten Charme zu verstecken; Ewa Noack findet als Polly das rechte Maß zwischen Naivität und Chuzpe; Alexandra Riemann switcht gekonnt zwischen Lucy und Hure hin und her. Übrigens: dass Macheaths „Bräute“ von der Darstellerinnen der Huren gespielt werden (oder umgekehrt) muss man wohl nicht inhaltlich interpretieren sondern als Personalsparmaßnahme verbuchen. Die Spelunken-Jenny der Katharina Otte: ein ausgekochtes Luder mit Sentimentalitäts-Resten. Leonard Lange wirkt als Tiger-Brown eher aalglatt als raubtier-wild – fast schon mafios (aber das ist er ja auch). Emanuel Weber und Adrian Thomser müssen die ganze kriminelle „Platte“ (bei Brecht mindestens 5 namentlich genannte Mitglieder) verkörpern und schaffen’s nebenbei noch souverän, bei den Bettlern auszuhelfen.
Herr und Frau Peachum schließlich sind Paraderollen für Patrick Hellenbrand und Lotte Kortenhaus, wobei letztere als einzige professionelle Sängerin im Schauspiel-Ensemble immer wieder für musikalische Höhepunkte sorgt und so nebenbei auch als Schauspielerin glänzt.
Und die Moral?
Jan Steinbach hat also das epische Theater ganz gut hingekriegt. Jetzt muss er – nach Brecht – nur noch „die Aktivität (des Zuschauers) wecken, von ihm Entscheidungen erzwingen und ihn zu Erkenntnissen treiben“. Steinbach folgt da Brecht – schreibt ihn bis in die Gegenwart fort:
Steinbach im Programmheft: „Durch das Offenlegen der Theatermittel … führt Brecht den Zuschauer*innen immer wieder vor Augen: Ihr werdet gerade manipuliert …, wir haben mit euch gespielt. Dadurch sagt Brecht dem Publikum immer wieder: Seid kritisch, seid wachsam – nicht nur im Theater, sondern auch wenn ihr Medien konsumiert.“
Demnach will Steinbach mit seiner Inszenierung diesen kritischen Blick, diese Wachsamkeit wecken im Hinblick auf „mediale Manipulationen, die immer schwerer zu durchschauen sind.“ Löblich! Aber am Erfolg darf gezweifelt werden. Die Mehrheit seiner Zuschauer wird die Detmolder Inszenierung wohl als „kulinarisches“ Theater genießen!
Trösten Sie sich, Herr Steinbach – Brecht gings genauso. Auch er hat schon nach der Uraufführung beklagt, dass sein Publikum seine „Dreigroschenoper“ als kulinarisches Theater genossen hat. Und das ist wohl – bei Zuschauern wie bei Theatermachern – bis heute so geblieben.
Und doch … die Dreigroschenoper enthält so viele provokante Thesen, dass der eine oder die andere vielleicht doch ans Denken kommt …
Nur einige Schlaglichter:
„Nur wer im Wohlstand lebt …“ – Dreigroschenoper anno 2024
Das Eingangs-Zitat (am Anfang dieser Kritik) ist ja längst in den allgemeinen Zitatenschatz eingegangen.
„Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ – die Schere zwischen immer Ärmeren und immer unvorstellbar Reicheren öffnet sich immer weiter – vgl. auch „Reich und Arm“ im Programmheft.
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ – ersetzt man (sicherlich Brecht-konform) „Fressen“ durch „Profite“, dann liegen die Beispiele auf der Hand: vom gigantischen VW-Diesel-Betrug bis zur skrupellosen Corona-Masken-Abzocke (übrigens mit namhaften CSU-Größen vorneweg)
„Erst muss es möglich sein, auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden“
Die „Tafeln“ leiden überall unter wachsender Nachfrage bei abnehmenden Spenden; die Tafel Detmold kann neue Bewerber noch nicht mal mehr auf die Warteliste setzen.
„… für die Armee wird jetzt wieder geworben“ – hätte sich vor drei Jahren kein Deutscher vorstellen wollen
Nach dem Erfolg der Dreigroschenoper konnte es der Agitator Brecht natürlich nicht lassen, immer neue Polit-Texte dazuzuschreiben. Etwa noch unter dem Eindruck des Weltkrieges („Der neue Kanonensong“,1946). Oder angesichts der alten Nazis, die es sich schon bald wieder „im Wohlstand angenehm“ machten („… vom angenehmen Leben der Hitlersatrapen“, 1948?).
Oder – als wär‘s von gestern! – „die neuen Schlussstrophen der Moritat von Mackie Messer“ (1948):
„… Und er kann sich nicht erinnern
Und man kann nicht an ihn ran
Denn ein Haifisch ist kein Haifisch
Wenn man’s nicht beweisen kann“
Soweit ich’s überblicke hat Steinbach darauf verzichtet, aus all dem etwas in seine Inszenierung aufzunehmen. Erst ganz am Ende erlaubt er sich noch einen kleinen Gag – mit den „Schlussstrophen des Dreigroschenfilms“ (1930):
„Und so kommt zu guten Ende
Alles unter einen Hut.
Ist das nötige Geld vorhanden
Ist das Ende meistens gut. …
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man sieht nur die im Lichte
…“ (vor der Schlusszeile wird’s dunkel).
Die Dreigroschenoper
Schauspiel mit Musik von Bertolt Brecht und Kurt Weill
Mitarbeit: Elisabeth Hauptmann
Besetzung
Musikalische Leitung Michael Spassov
Regie Jan Steinbach
Bühne Franz Dittrich
Kostüm Carla Nele Friedrich
Dramaturgie Katrin Aissen
Mackie Messer Paul Enev
Jonathan Jeremiah Peachum Patrick Hellenbrand
Celia Peachum, seine Frau Manuela Stüßer Lotte Kortenhaus
Polly Peachum, seine Tochter Ewa Noack
Brown, Polizeichef Leonard Lange
Lucy, seine Tochter Alexandra Riemann
Die Spelunken-Jenny Katharina Otte
Smith Gernot Schmidt
Filch/ Münz-Matthias Emanuel Weber
Hakenfinger-Jakob / Bettler Adrian Thomser
Huren Alexandra Riemann. Ewa Noack
Jimmy / Bettler / Konstabler Statisterie
Mitglieder des Symphonischen Orchesters
Zusatzveranstaltungen rund um die Premiere:
NachSpiel Samstag, 7.12., Foyer-Restaurant