Tua res agitur
„Der Haken“ von Hübner/Nemitz im Detmolder Sommertheater:
Betroffene – auf und vor der Bühne
(g.wasa – Detmold) Heute zählen wir – anders als noch Spitzweg – Schauspieler nicht mehr zum „fahrenden Volk“. Allerdings sind sie, gerade an kleineren Häusern wie dem Landestheater Detmold, angesichts wechselnder Engagements wohl häufiger zu Umzügen gezwungen als das Gros der Bevölkerung – und damit häufiger mit dem Problem „Wohnungssuche“ konfrontiert.
Für die Darsteller in der neuesten Landestheater-Inszenierung mag deshalb in besonderem Maße der alte Theaterspruch gelten: „Tua res agitur“ – „Es ist deine Sache, die da abgehandelt wird, es geht um dein Problem“.
Die Geschichte / Die Autoren
Die „Sache“, das Problem, welches in „Der Haken“ abgehandelt wird, wird vom Landestheater so zusammengefasst:
„Eine Wohnung, 80 qm für 850 Euro warm? So ein Angebot kann man bei der Wohnungs-marktlage heutzutage nicht ausschlagen. Kein Wunder also, dass sich bei einem Besichtigungstermin die zahlreichen Bewerber*innen von ihrer besten Seite präsentieren wollen.“
Diese Situation ist ein gefundenes Fressen für die Autoren: Lutz Hübner (geb. 1964 in Heilbronn, gelernter Schauspieler) ist – laut Wikipedia – einer der „meistgespielten Dramatiker der Gegenwart auf deutschen Bühnen, in der Zahl der Aufführungen nur noch von Shakespeare und Goethe übertroffen“). Eine seiner Spezialitäten: die unterschiedlichen Reaktionen unterschiedlicher Personen auf eine gegebene Situation: meisterhaft etwa in seinem „Gretchen 89 ff.“ von 1997, in dem er unterschiedliche Regisseure mit unterschiedlichen Schauspielerinnen die „Kästchenszene“ aus dem „Faust“ proben lässt; oder in dem (auch erfolgreich verfilmten) „Frau Müller muss weg“, das er – wie auch den „Haken“ und zahlreiche weitere Stücke – zusammen mit seiner Kollegin und Ehefrau Sarah Nemitz verfasst hat.
Nun also hetzt das Autoren-Duo (gekonnt, wie gewohnt) sechs Charaktere in die Schlacht um die warme Wohnung. Sie alle wollen ihre jeweiligen Stärken ins Spiel bringen: Am einfachsten scheint es da Peer Bechtolf (Emanuel Weber) zu haben: der Internet-Millionär, der die Wohnung gleich zu einem Spitzenpreis kaufen will (aber womöglich an seiner Großkotzigkeit scheitert?). Der Gegenpol: die Freundinnen Berenice Vendel (Katharina Otte) und Sina Hindelang (Ewa Noack), sanfte Pflegerin und robuste Studentin, die mangels Kohle auf dem Wohnungsmarkt immer hinten runter fallen und deshalb versuchen müssen „mit der Moralkeule“ Punkte zu machen. Elke Özdamar (Anja Syrbe) tritt als erfolgreiche Geschäftsfrau und fürsorgliche Mutter auf und will damit den Makel ihres migrations-hintergrund-verdächtigen Namens übertünchen. Und schließlich das (Ehe-)Paar Hanna und Jan Mierau (Manuela Stüßer, Leonard Lange) – eigentlich längst getrennt, aber mangels zweiter Wohnung verdammt, weiterhin unter einem Dach zu leben (und sich dauernd gegenseitig zu bevormunden). Das Tableau komplettiert ein überforderter / unprofessioneller Makler (Paul Enev) und später ein Überraschungsgast, von dem noch die Rede sein wird.
Und die haben jetzt eine Stunde Zeit, sich an- (gegen-) einander abzuarbeiten und nebenbei das Publikum zu unterhalten. Letzteres gelingt ganz gut, obwohl manches allzu überspannt rüberkommt, obwohl‘s öfters gar zu hektisch zugeht, bis hin zum kaum glaubhaften Nervenzusammenbruch des Maklers. Aber zwischendurch gibt’s immer mal wieder hübsche Szenen (die Überlegenheit weiblicher Lässigkeit über männliche Macho-Grobheit, am Beispiel eines ordinären Stuhl-Stapels). Und wir kriegen vorgeführt, wie sich Gerüchte entwickeln. Denn natürlich wundern sich die Miet-Interessenten, wieso diese schöne Wohnung so billig ist, und spekulieren, was wohl „der Haken“ daran sein möge. Und warum steht die Wohnung überhaupt leer? Was ist mit den Vormietern? Wenn dann noch jemand aus dem nahe gelegenen Büdchen die gesammelten Nachbarschaftsvermutungen mitbringt, dann ist der Weg zur Verschwörungstheorie (Mafia? Russenbordell? …) quasi vorgezeichnet.
Das gemeinsame Problem – die Wohnungsnot
Bei all dem bleibt immer präsent: der Wohnungsmarkt mit dem zu knappen Angebot und der – teilweise schon verzweifelt – dringlichen Nachfrage. „Eine ähnliche Situation hat wahrscheinlich schon jede*r im Publikum einmal erlebt“, vermutet Dramaturgin Magdalena Brück.
Wirklich?
Gehört der „typische“ Theaterbesucher nicht doch eher zu denen, die – laut Regisseur Alexander Marusch – „bei der Wohnungsvergabe immer gewinnen …: wer weiß ist, wer deutsch ist, wer heterosexuell ist, wer cis ist [musste ich erst mal googeln], wer nicht behindert ist und vor allem, wer die Miete schon zwei Jahre im Voraus bezahlen kann“.
Können sich also die da unten (im Theatersaal) / die da oben (in der Wohlstands-Pyramide) gemütlich zurücklehnen und das Schauspiel genießen, wie die da oben (auf der Bühne) / unten (in der gesellschaftlichen Hierarchie) sich abkämpfen? Für die Ersteren also: „Nicht unser Problem!“ Kein „tua res agitur“.
Gemach, gemach!
Das eigentlich Problem des Stücks
Denn jetzt tritt eine Wende ein. Der bereits angekündigte „Überraschungsgast“ erscheint. Es ist Benedikt Goldmann (Gernot Schmidt), der Eigentümer der Wohnung, der ein Stockwerk höher wohnt und unter altersbedingten Ausfallerscheinungen leidet. Jetzt beantwortet sich die Frage nach dem „Haken“: Gesucht wird nicht so sehr ein Mieter, sondern jemand der sich um den Eigentümer kümmert. Denn der ist vergesslich, einsam, sich selbst vernachlässigend, auf den Rollstuhl (und überhaupt auf Hilfe) angewiesen – aber uneinsichtig, altersstur, überzeugt, sein Leben noch im Griff zu haben.
Ab da ist nichts mehr überspannt. Vielmehr liefert Schmidt das faszinierende Porträt des Hilfebedürftigen: gleichzeitig drastisch und einfühlsam-dezent. Theater vom Feinsten! – Bis der Alte gewindelt werden muss. Diese Szene will man weder Mitspielern noch Publikum zumuten. Deshalb tritt jetzt Goldmann aus seiner Rolle heraus und versetzt sich in seine Vergangenheit als Diplomat. Fraglich, was das inhaltlich bringen soll. Mich jedenfalls hat sein endloser Altmänner-Rap („tschi bumm … tschick … takitu …“) zunehmend genervt. Hätte man davon – mindestens! – die Hälfte gestrichen, dann hätten die Darsteller am Anfang mehr Zeit gehabt und hätten nicht derart hektisch (= schwer verständlich!) durch ihren Text hetzen müssen.
Aber was soll’s! In positiver Erinnerung bleibt wohl die feinziselierte Darstellung des Alten – und die Reaktion der Wohnungssuchenden auf das Ansinnen, sich um diesen kümmern zu sollen. Und da ist es wieder, das „Tua res agitur“ – in zweifacher Hinsicht.
Wie würde ich wohl auf dieses Ansinnen reagieren?, fragt man sich. Wie weit wäre ich bereit zur Hilfe, zur Solidarität mit „meinem Nächsten“? Und damit ist man noch näher an dem ursprünglichen Horaz-Zitat, das in voller Länge lautet: „Nam tua res agitur, paries cum proximus ardet.“ („Denn um deine Sache geht es, wenn die Wand beim Nachbarn/bei deinem Nächsten brennt.“)
Und zum zweiten fordert das Schicksal des Benedikt Goldmann unweigerlich dazu heraus, sich Gedanken um die eigene Zukunft zu machen. Tua res agitur – es ist dein Problem, das da abgehandelt wird. Auch wenn du vielleicht noch Jahre, Jahrzehnte Zeit hast, bis das Problem eintritt.
Das Anliegen des Theaters, formuliert vom Regisseur:
„… dass sich das Publikum mit diesem Szenario beschäftigt – dass die Wohnungssuche in den Hintergrund rückt und die viel fundamentalere Frage präsenter wird: wie wir mit unserem eigenen Lebensende umgehen und wie wir uns damit auseinandersetzen können, bevor es zu spät ist.“
Das ist wohl gelungen!
Landestheater Detmold – Grabbehaus:
Der Haken
Von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Besetzung:
Regie Alexander Marusch
Bühne und Kostüm Christiane Hercher
Musik Stefan Leibold
Dramaturgie Magdalena Brück
Licht Jonas Müller
Hanna Mireau Manuela Stüßer
Jan Mireau Leonard Lange
Peer Bechtolf Emanuel Weber
Elke Özdamar Anja Syrbe
Berenice Vendel Katharina Otte
Sina Hindelang Ewa Noack
Martin Brockes Paul Enev
Benedikt Goldmann Gernot Schmidt
Nächste Termine:
Fr, 15.11.24, 19:30
Mi, 20.11.24, 19:30
Fr, 29.11.24, 19:30
Sa, 18.01.25, 19:30
Mi, 04.12.24, 19:30 – Rheine, Stadthalle
So, 16.03.25, 20:00 – Holzminden, Stadthalle
Do, 03.04.25, 20:00 – Verden, Stadthalle
(ohne Gewähr – s. Terminplan Landestheater
https://www.landestheater-detmold.de/de/programm/der-haken/40649911 )