Thematisch hatte es einen weiten Bogen geschlagen. Es war am ersten Wochenende zunächst von der Astronomie und Astrologie im mittelalterlichen Kloster Corvey und den Himmelsbeobachtungen zur karolingischen Zeit ausgegangen, behandelte am zweiten Wochenende den Sternenhimmel der Renaissance und Aufklärung und endete am dritten Wochenende mit der Nacht als Träger der Sterne vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher, philosophischer wie künstlerischer Visionen.
Als Finale feierte am Sonntagvormittag das Publikum mit stehenden Ovationen das renommierte Schauspielerpaar Jens Harzer und Marina Galic, die Gesänge an die Sonne von Echnaton bis Ingeborg Bachmann lasen. Dazu spielt das Minetti-Quartett das „Sonnenaufgangsquartett“ von Joseph Haydn und, mit Sharon Kam an der Klarinette als Gast, das Klarinettenquintett A-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart. „Schön bist du, lebendige Sonne“, dieses strahlend helle Motto der Matinee war ein zukunftsweisender Abschluss des dreiwöchigen, an Sternen und Himmel ausgerichtete Festival.
Begonnen hatte das abschliessende Wochenende am Freitagabend mit dem „Rilke-Projekt“ der Musiker Richard Schönherz, Ali Neander und Dominik Steegmüller. Die Texte von Rainer Maria Rilke las die Schauspielerin NIna Hoger. Rilke schrieb, seine Verse seien nicht Gefühle, wie die Leute meinen, sondern Erfahrungen. In Rilkes wunderbaren Liebesgedichten „liegen die Nächte vor dir auf den Knien“, das Paar ruht „ganz im Raum, in dem die Sterne sich sicher fühlen“. Diese Veranstaltung mit Rilke-Gedichten zu den Sternen war eine Premiere.
Großen Zuspruch fanden auch die beiden Vorträge am Samstagnachmittag. Neu in diesem Jahr war, dass die nachmittäglichen Vorträge vor allem von hochkarätigen Naturwissenschaftlern gehalten wurden. Der Physiker Matthias Junker versuchte auf die eigentlich unbeantwortbare Frage „Wie endet das Universum? Eine kurze Reise an das Ende der Zeit“ zu antworten. Noch immer ist nicht geklärt, ob unser Universum von einem sogenannten Singularitätspunkt aus mit einem Big Bang, also einem Urknall, begann und logischerweise dann auch am Ende wieder zu einem solchen Punkt implodieren könnte. Oder ob unser aus Millionen von Galaxien bestehende Universum eine ganz andere Entwicklung nahm und nimmt. Zwar sind wir heute bedeutend weiter in unserer Erkenntnis als noch zu Zeiten von Aristoteles. Doch wirklich gesichert ist bislang nur, dass mit jeder neuen Erkenntnisstufe ein ganzes Weltbild erneut in Frage gestellt werden muss. Wie damals zu Keplers Zeit, als die Entdeckung neuer, weil nur mit einem Fernrohr sichtbarer Sterne das fest verankerte Aristotelessche Weltbild plötzlich ins Wanken brachte.
Ganz anders sieht der Himmel in der Kunst aus. Vom Phänomen der Nacht bei Caspar David Friedrich und in der Kunst der Romantik berichtete der Kunsthistoriker Christoph Orth. Der Kulturhistoriker Manfred Osten untersuchte die Heiligsprechung der Nacht bei Goethe und Caspar David Friedrich. Friedrichs Credo war, ein Maler solle malen, was er eben gerade nicht sieht. Vielmehr solle er das unsichtbar Dahinterliegende, Transzendente für den Betrachter sichtbar machen. Goethe sah die Nacht als ein mit dem Tod verbundenes Symbol der Ewigkeit, für Friedrich war sie auch ein Symbol der Liebe. Goethes Nachtaffinität gipfelte in den Worten, dass der Mensch ein dunkles Wesen sei, das nicht wisse, woher es komme noch wohin es gehe. Von Friedrich ist ein Gedicht überliefert mit dem Titel „Die Erde liegt im Dunkeln“. Nach den ohnehin schon interessanten Vorträgen gab es in einem gemeinsamen Gespräch noch einen brillanten Gedankenaustausch. Osten zitierte unter anderem einen provokanten Satz Goethes, der meinte, wir besitzen die Kunst, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen.
Anknüpfend an den Nachmittag besang am Abend der Schauspieler Robert Stadlober mit zwei poetischen Werken aus unterschiedlichen Jahrhunderten die Nacht. Das Publikum hörte „Hymnen an die Nacht“ von Novalis und „Nacht“ von Etel Adnan. „Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft“, schreibt Novalis, der seinen frühromantischen Gedichtzyklus unter anderem nach dem schmerzvollen Verlust seiner frühverstorbenen Verlobten Sophie von Kühn verfasst hatte. Dazu passte hervorragend die Musik des bekannten Jazztrompeters Till Brönner und des Kontrabassisten Dieter Ilg, die u.a. Stücke aus ihrem Projekt „Nightfall“ spielten.
Genau diese Kombination aus zugleich sinnlich-künstlerischem wie geistig-wissenschaftlichem Genuss macht das Besondere des Via Nova Kunstfestes aus. Das Publikum verließ nicht nur euphorisiert und beseelt, sondern stets auch bereichert das Schloß Corvey. Die insgesamt fünfzehn Veranstaltungen waren mit 2500 verkauften Tickets zu zweiundneunzig Prozent bestens ausgelastet.
In einem Interview nach der Abschlussmatinee antwortete der Hausherr, Viktor Herzog von Ratibor und Fürst zu Corvey, auf die Frage, wie man sich als Gastgeber so vieler hochkarätiger Gäste fühle: „Es ist immer eine Riesenfreude, das Via Nova Kunstfest hier in Corvey zu wissen. Außergewöhnlich ist, dass sich das Kunstfest ausschliesslich an dem universellen und besonderen Wert der Welterbestätte orientiert. Keine andere Welterbestätte in ganz Deutschland besitzt so etwas. Und dass so viele phantastische Künstlerinnen und Künstler kommen und natürlich auch die liebevolle und themenorientierte Auswahl von Texten und Musikstücken durch unsere künstlerische Leiterin, Frau Dr. Brigitte Labs-Ehlert, sind etwas Unverwechselbares und Besonderes.“ Gefragt nach seinem beeindruckendsten Erlebnis in diesem Jahr sagte der Herzog: „Ich bin immer wieder begeistert von Jens Harzer. Dieser Schauspieler hat eine Art zu lesen und vorzutragen, die mich fesselt und in Bann zieht, dem kann ich mich nicht entziehen.“ Für die Zukunft wünscht sich Viktor Herzog von Ratibor, „dass das Kunstfest weiterhin so bestehen bleibt, wie es ist. Wir brauchen dazu unsere Förderer, das Land Nordrhein-Westfalen, die Kunststiftung NRW, Stadt und Kreis Höxter sowie private Förderer und viele andere Unterstützer. Und wir brauchen natürlich die Expertise von Frau Dr. Labs-Ehlert. Könnten wir es so lange wie möglich weiterführen, wäre es wunderbar!“
Die künstlerische Leiterin des Festes, Brigitte Labs-Ehlert, bedankte sich nach diesen drei ereignisreichen Wochenenden beim Publikum, das „wie ein Resonanzkörper auf das Gehörte reagierte und seine Energie den Künstlern und Wissenschaftlern zurückspiegelte“, wie sie sagte. Und sie kündigte auch bereits das Motto des nächsten Jahres an, welches „Das schöne BIld der Freundschaft. Gedankenwelten der Menschlichkeit“ lautet und von den für Corvey kopierten Schriften des antiken Gelehrten Cicero ausgeht. Das Via Nova Kunstfest Corvey 2025 wird vom 29. August bis 14. September 2025 stattfinden.