Nibelungenleader
von Kristo Šagor
Freilichtstück vor der Stadtbibliothek Paderborn
Aufführungsrechte Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, Berlin | www.kiepenheuer-medien.de
FOTO Meinschäfer Fotografie
// BESETZUNG
Siegfried Lukas Koller
Kriemhild Marsha Maria Miessner
Gunther Tomasz Cymerman
Hagen Meinolf Steiner
Brynhild Julia Braun
Regie Wojtek Klemm / Bühne & Kostüme Romy Rexheuser/ Musik Katrin Kaspar / Dramaturgie Michael Kaup / Dramaturgieassistenz Lena Kern / Soufflage Hermann Holstein / Regieassistenz Djuna Maria van den Broek / Regiehospitanz Nadine Günter / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Fabian Köhler / Einrichtung Licht Marcus Krömer & Fabian Cornelsen / Betreuung Licht Fabian Cornelsen, Viviane Wiegers & Laurin Steinhoff / Ton & Video Tim Klöpper, Till Petry & Juri Zitzer / Requisite Annette Seidel-Rohlf & Sona Ahmadnia / Leitung Kostümabteilung Lisa Brzonkalla / Maske Ulla Bohnebeck
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Inhalt
Der historische Stoff des Nibelungenlieds neu interpretiert! Der Drachentöter Siegfried badet heldenhaft im Blut des von ihm erlegten Fabelwesens und erkämpft sich den Schatz sowie das Heer der Nibelungen. Unbesiegbar mit Schwert und Tarnkappe wirbt er erfolgreich um Kriemhild. Sie ist die Schwester von Gunther, dem König von Burgund. Gunther will Brynhild, die Herrscherin über Island, zur Frau nehmen und macht sich dafür den eingeheirateten Helden zu nutze. Denn Brynhild gilt als die Stärkste aller Frauen. Um sie im Bett und im Wettkampf zu erobern, steht dem schwächlichen Gunther heimlich Siegfried zur Seite. Es passiert, was passieren muss: Gunthers und Siegfrieds Abkommen fliegt auf und der Hölle Rache nimmt ihren unaufhaltsamen Lauf.
Kristo Šagor (*1976) offenbart mit diesem Stück die Aktualität des Menschheitsmythos aus dem 13. Jahrhundert. Die verschiedenen zu Wort kommenden Figuren im Heldenepos hinterfragen heutige Machtstrukturen und Rollenbilder: Was bedeutet es ein Held zu sein? Und wer ist Opfer oder Täter? Šagor erhielt für seine Theaterstücke bereits zahlreiche Preise. Zuletzt gewann er 2019 für „Ich lieb dich“ den Mülheimer KinderStückePreis.
// Kristo Šagor
Kristo Šagor wurde 1976 in Stadtoldendorf geboren. Er studierte Linguistik sowie Literatur- und Theaterwissenschaft in der Freien Universität Berlin. Er schreibt und inszeniert Theaterstücke und verfasst eigene Bühnenbearbeitungen zu vorliegenden Werken, u.a. von Goethes „Werther“, von Horváths „Jugend ohne Gott“ oder zuletzt „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ nach Heinrich Böll. Für seine Theaterstücke erhielt er zahlreiche Preise, u.a. beim Heidelberger Stückemarkt 2001 den Publikumspreis und 2019 den Jugendstückepreis, 2003 und 2005 den Autorenpreis beim Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugendtheaterfestival „Kaas und Kappes“, 2014 den Baden- Württembergischen Jugendtheaterpreis und den Mülheimer Kinderstückepreis 2019. Für seine Regiearbeit konnte er 2008 den Deutschen Theaterpreis DER FAUST für die beste Regie im Kinder- und Jugendtheater in Empfang nehmen.
Quelle: Kiepenheuer Theater & Medien: Kristo Šagor.
https://www.kiepenheuer-medien.de/autorinnen/de/showA?aid=466
// Das Nibelungenlied
Das ,Nibelungenlied‘, das um 1200 von einem unbekannten Dichter verfaßt wurde, erzählt vom Tod des strahlenden Helden Siegfried und vom Untergang aller Burgunden, in deren Mitte sich der Meuchelmord an Siegfried ereignet hat. Verbunden sind beide Teile durch den Racheimpetus Kriemhilds, die sich von der willfährigen Schwester der Brüderkönige am Wormser Hof zu einer furiosen Rachegöttin wandelt. Ihr großer Gegenspieler ist Hagen. Dieses Handlungsgerüst gibt den Hintergrund ab für ein hochgradig affektgeladenes Geschehen. Szenen glanzvoller höfischer Selbstvergewisserung wechseln ab mit Einbrüchen von Klage und Verzweiflung, mit Blut und Tod. Eine emotive Welt zwischen den konträren Polen von Hochstimmung und Schmerz präsentiert sich gleichermaßen instabil und gefühlsintensiv, während die Dramaturgie des Liedes immer wieder das Unberechenbare in Szene setzt. Dabei spielt der Autor ein Gefälle zwischen allgegenwärtiger negativer Prophetie und der überwiegenden sozialen Blindheit der Figuren aus. Die Protagonisten besitzen weder Einsicht in das eigene noch das fremde Handeln und bewegen sich, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, auf ihre Auslöschung zu. Aber auch der Leser oder Hörer wird nicht ,aufgeklärt‘, erhält allenfalls vordergründige Antworten auf eine Warum-Frage. Er hat lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven teil an einer Handlung, die sich ihm oftmals nur in Fragmenten und Zerrbildern auf variierenden Erzählebenen präsentiert. Gleichwohl nimmt ihn das Geschehen, das er sich fürs erste nicht zu deuten vermag, gefangen, ja die Absenz einer rationalen Vermitteltheit, eines kognitiven Distanzierungsangebots zieht ihn vermehrt in die fiktionale Welt hinein. Das vielzitierte Faszinosum des ,Nibelungenliedes‘ dürfte sich nicht zuletzt dieser Darstellungsform verdanken, die unschwer an eine heldenepische Erzähltradition rückzubinden ist.
So ungebrochen die Wirkungsmacht dieser großen Dichtung bis auf den heutigen Tag ist, ihre Kraft, Gemüter zu bewegen und die Phantasie anzuregen, so problembehaftet ist der Umgang mit ihr für die Forschung. Scheint sich der Text doch jeglichem Sinnfindungsanspruch zu entziehen und geben die Wandelbarkeit der Figuren, das verwirrende Nebeneinander von Freundschaft und Feindschaft und nicht zuletzt das grauenvolle Ende mehr Rätsel auf, als daß ihnen kausal schlüssige Erklärungen zu entnehmen wären. Entsprechend dominiert denn auch in der neueren Forschung, sofern man sich nicht auf Teilaspekte beschränkt, eine Position, die primär auf das Nicht-Deutbare rekurriert. Einem Verständnis, das hinter dem Text die Insuffizienz eines Autors vermutet, welcher unterschiedliche Stofftraditionen nicht überzeugend zu vermitteln vermocht hätte, steht eine Einschätzung zur Seite, der gemäß sich das Lied aufgrund historisch gegenläufiger Traditionslinien nicht zu einem Ganzen füge, dieses aber auch nie intendiert habe, vielmehr hierin der ästhetische Reiz des Werks zu suchen sei. Ästhetische Wirkungsmacht ist aber doch wohl allererst der Absicht des Autors zu verdanken, der seit jeher über Mittel und Wege der Publikumslenkung verfügt, der mehr irritieren als erklären, mehr bewegen als beschwichtigen will und über das literarische Instrumentarium der Verrätselung seines Stoffes und seiner Botschaft frei verfügt. Risse an der Oberfläche des Textes und Verschlüsselungen lassen demnach nicht ohne weiteres auf die brüchige Gesamtkonstruktion eines Werkes schließen, das seine innere Einheit möglicherweise nur nicht so ohne weiteres preisgibt. Schließlich ist es ja gerade das Rätselhafte eines Textes, das uns an ihn bindet — und die Aussicht darauf, dieses Rätsel in der Lektüre lösen zu können.
Quelle: Irmgard Gephart, „Einleitung“, in: ders. (Hg.): Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im Nibelungenlied, Böhlau Verlag 2005.
// Höfische Welten zwischen Heldenmut und Angst
Ein gewalttätiges Traumbild, in dem Kriemhild miterleben muß, wie zwei Adler ihr einen Falken zerreißen, steht in scharfem Kontrast zu einer eben noch vorgestellten Männerwelt, die ein Maximum an Macht und Würde repräsentiert:
„In solch einer herrlichen Umgebung wuchs Kriemhild auf. Eines Nachts träumte ihr, sie zöge einen starken, prächtigen und wilden Falken auf, den ihr zwei Adler zerfleischten. Daß sie das mitansehen mußte! Niemals hätte ihr auf dieser Welt etwas Schmerzlicheres geschehen können.“
Das Bild wirkt bedrohlich – ohne daß diese emotive Qualität weiter verhandelt würde. Der Text beschränkt sich vielmehr auf die knappe Erzählung durch die Tochter und die Deutung der Mutter, welche Kriemhild den Falken als ihren zukünftigen Geliebten auslegt, den sie, wenn Gott ihn nicht behüte, bald wieder verlieren werde.
„Der Falke, den Du aufziehst, das ist ein edler Mann. Wenn Gott ihn nicht in seinen Schutz nimmt, dann mußt Du ihn bald wieder verlieren.“
Die Hauptpersonen des nibelungischen Dramas sind damit benannt: Kriemhild als Falknerin, Siegfried als Falke sowie Günther und Hagen als die zwei Adler. Neben dieser vorausdeutenden Perspektive auf Täter- und Opferrollen im Lied eröffnet der Traum aber noch eine weitere, tiefendimensionale Perspektive auf das grundlegende Geschlechterdrama der höfisch-kriegerischen Welt im Bild von Wildheit und Zähmung. Eine Frau zähmt ihren Geliebten, der mit den Attributen starc, scoen’ und wilde ausgestattet ist, den sie gleichwohl in der Metapher der Falknerei an sich zu binden versteht als ein männliches Wesen, das immer wieder von ihr fortfliegt, aber auch immer wieder zu ihr zurückkehrt. Der Mann als Falke, schön zwischen Freiheit und Gebundenheit, aber wird ihr geraubt und getötet von zwei noch größeren Raubvögeln aus jener animalischen Welt, als die der höfischen Frau die fremde Männerwelt erscheint. Als Zähmende und Leidende steht sie machtlos wilden ,männlichen’ Naturkräften gegenüber, die ihrem Beutetrieb folgen. Und damit ist die Ikone von Mensch und Falke, die Suggestion einer gezähmten und beherrschten Natur, überführt in ihr schlimmst mögliches Gegenteil: in die Zerstörungskraft der triebgebundenen Natur, die sich von ihresgleichen ernährt. Das in menschliche Bindungen Hineingenommene, Kultivierte, erscheint jetzt als grundsätzlich gefährdet durch die Angriffslust wilder Kreaturen.
Männliches und Weibliches begegnen sich aber in der letzten Zeile noch auf eine andere, eigentümliche Weise. Der Tod so zahlreicher Helden suggeriert in der mittelhochdeutschen Umschreibung von vil maneger muoter kint die Nähe zu einem mütterlichen Schoß und damit die Erfüllung eines schicksalhaften Kreislaufs, in dem Geburt und Tod mit der mütterlichen und der rächenden Frau verbunden werden. Weibliche Übermächte stehen am Beginn und am Ende einer männlich-heroischen Existenz, während die Frau ihrerseits an eine leidbringende Männerwelt gebunden ist wie die Falknerin an den Falken.
Das Verhältnis der Geschlechter wird in der zweiten Aventiure als Mutter- Sohn-Beziehung entfaltet. Der Erzähler schwenkt über zum Xantener Hof, wo er zunächst von der höfischen Erziehung des jungen Siegfried berichtet. Den Höhepunkt bildet das Fest der Schwerdeite, das von maximaler Prachtentfaltung getragen ist. Siegfried erhält die ritterlichen Weihen zusammen mit vierhundert Knappen, die alle gleichermaßen kostbare, mit Edelsteinen besetzte und goldurchgewirkte Gewänder angefertigt bekommen . Hier wie andernorts sind es ausschließlich junge Mädchen, die hingebungsvoll mit der Anfertigung der Gewänder befaßt sind, welche die Körper der jungen Männer schmücken sollen.
Über eine emotive Beziehung der Herrscherfamilie untereinander erfahren wir zunächst kaum etwas. Allerdings wird die Mutter Sieglinde hervorgehoben, die durch ir sunes liebe rotes Gold an die Gäste verteilt. Der Herrschergestus, der die Machtposition ihres Sohnes stützen soll, entspringt ihrer mütterlichen Zuneigung. Die Aventiure schließt dann mit dem Hinweis darauf, daß sich der Adel Siegfried als Herrscher wünscht, jener aber zu Lebzeiten seiner Eltern davon Abstand nehmen und ausschließlich zur Landesverteidigung zur Verfügung stehen will. Die Aussage ist ambivalent. Einerseits dokumentiert Siegfried damit eine Haltung der Ehrerbietung gegenüber den Eltern, die durchaus einer gängigen Herrschaftspraxis entspricht, andererseits aber erinnert dieser Verzicht an die Verweigerungsattitüde Kriemhilds. Ähnlich wie sie mag er damit in einen Kontext juveniler Unreife gestellt werden.
In Entsprechung zu der Ambivalenz der höfischen Welt in Worms bricht dann allerdings auch in die geordnete Welt von Xanten mit dem Gedanken Siegfrieds an die Minne ein Moment von Chaos und Verwirrung herein. Den herren muoten selten deheiniu herzen leit bildet den formelhaften Einstieg in die Erzählung der folgenden Wirrnisse — ähnlich wie in Worms die Darstellung höfischer Freude überleitete zu Kriemhilds Falkentraum. Offenbar gefährdet die Minne einen gesicherten Status quo, auf personaler wie politischer Ebene, und vermag ein scheinbares Idyll autonomer Machtentfaltung aufzubrechen.
Quelle: Irmgard Gephart, „Träumende Frauen und glanzvolle Ritter“, in: ders. (Hg.): Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im Nibelungenlied, Böhlau Verlag 2005.
Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH
Neuer Platz 6, 33098 Paderborn
Intendanz, Geschäftsführung Katharina Kreuzhage
Vorsitzender des Aufsichtsrats Michael Dreier
Redaktion Dramaturgie