Anja Bohnhof
INDIA 2009-2023
KONZEPTUELLE FOTOGRAFIE
PaK PALAIS FÜR
AKTUELLE KUNST
Bilder aus der Ausstellung im Schloss Detmold
Anja Bohnhof, geb.1974, lebt und arbeitet in Dortmund.
Sie studierte nach einer fotografischen Ausbildung Visuelle Kommunikation und Freie Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar. Ihre Arbeiten sind bereits vielfach mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet worden. Ihre Werke sind in namhaften Sammlungen vertreten. Seit 2009 hat Anja Bohnhof u.a. zahlreiche Buch- und Ausstellungsprojekte über Indien realisiert. Die Ausstellung gibt Einblick in fotografische Projekte, die in den vergangenen vierzehn Jahren in Indien entstanden sind. „Mit ihrer strengen, konsequenten und unverkennbaren Bildsprache lässt uns Bohnhof den öffentlichen Raum mit neuen Augen sehen. Sie schenkt uns Perspektiven innerer Welten. Dokumentaraufnahme und realistischer Wahrheitsgehalt regen zum Nachdenken an, schaffen Raum für eigene Gedanken und Kritikpunkte hinsichtlich gesellschaftlicher Fragen, die weit über den geografischen Raum Indien hinausgehen.“
“Kalkutta war immer noch Indiens künstlerischer und intellektueller Leuchtturm, und seine Kultur war so lebendig und kreativ wie eh und je. Die Hunderte von Bücherständen in der College Street waren nach wie vor voll mit Büchern – Originalausgaben, Broschüren, große literarische Werke, Publikationen jeder Art, sowohl auf Englisch als auch in den zahlreichen indischen Sprachen. Obwohl die Bengalen nur noch knapp die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung der Stadt ausmachten, gab es keinen Zweifel daran, dass Kalkutta mehr Schriftsteller als Paris und Rom zusammen, mehr Literaturzeitschriften als London und New York, mehr Kinos als Neu-Delhi und mehr Verleger als das ganze übrige Land hervorgebracht hatte.“
Man sagt auch heute noch, hier könne man jedes Buch kaufen. Die über zehntausend, oft improvisiert wirkend eingerichteten Verkaufsstände sind das Thema in Anja Bohnhofs Serie „Books for Sale“.
Menschenleer sind die über und über mit Büchern vollgestapelten Stände in Anja Bohnhofs mit Großformatkamera aufgenommenen Bildern. Die einzelnen Bücher weisen sichtbare Gebrauchsspuren auf und die gesamte Auslage mit ihrer Vielfalt in Hülle und Fülle zeugt von großem Respekt, der dem Wissen und der Bildung in Indien entgegengebracht wird. Die stille Konzentration auf das Motiv der Buchstände zu erzielen, war in der belebten College Street nicht ganz einfach und erforderte kurzzeitige Absperrungen der jeweiligen Straßenabschnitte.
Nicht weit von der College Street entfernt stößt man auf einen anderen, für uns Europäer äußerst merkwürdig anmutenden Ort. Hier, in unmittelbarer Nähe des Hohen Gerichts Kalkuttas, sitzen Schreibkräfte auf der Straße und tippen emsig und konzentriert Schriftstücke mit ihren teils Jahrzehnte alten Remingtons. Nachschub gibt es kaum mehr, nachdem 2011 auch der weltweit letzte, in Indien ansässige Hersteller von Schreibmaschinen seine Produktion eingestellt hat.
Möglichst platzsparend haben sich die „Pavement Typists“ eingerichtet, nutzen teils wild anmutende Tischkonstruktionen als Ablage. Nur das Nötigste haben sie dabei: Papiere, Brillenetuis, ein wenig Verpflegung, Tragetaschen.
Anja Bohnhof nimmt in ihrer Serie „Typosphere“ die archaisch anmutenden Ensembles in den Blick und ebenso diejenigen, die sie konstruiert haben, um auf der Straße eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Die oft ungelernten Kräfte haben sich über die Zeit einen wertvollen Wissensschatz angeeignet. Sie fertigen Schriftstücke für Behördengänge und die Polizei an und werden nicht zuletzt aufgrund ihres juristischen Wissens geschätzt. Ein äußerst kurioses, und hierzulande vor dem Hintergrund von Datenschutz und der diskreten Unsichtbarkeit behördlicher Vorgänge undenkbares Szenario.
Auf den ersten Blick fasziniert hier die Schönheit der Schreibstätten, die Anja Bohnhof durch das Einziehen eines Atelierhintergrundes und gekonnte Lichtsetzung isoliert ins Bild setzt und so eine Betrachtung bis ins kleinste Detail ermöglicht. Verändert hat sie nichts. In der Tat stehen diese Objekte mit ihrer unerwarteten Eleganz, ihrer historisch anmutenden Patina und den teils fast künstlerisch wirkenden Farbkompositionen so auf der Straße. Da kommt bei der Handhabung eines modernen Macbooks doch ein bisschen Wehmut auf und in der Tat spielt Anja Bohnhof hier auch auf die Rückbesinnung auf das Analoge an, das in Europa in vielen Lebensbereichen spürbar ist. Die Fotografien der Serie „Typosphere“ sprechen die Sehnsucht nach haptisch reizvollen, natürlichen Materialien, Nachhaltigkeit, Individualität und Entschleunigung an.
Das gilt in ähnlicher Weise auch für die zuvor erwähnte Serie „Books for Sale“. Zugleich verweisen beide Serien in der konzeptuell-konzentrierten Betrachtung, wie Anja Bohnhof sie hier leistet, auf einen großen Missstand: Indien, das Land mit einer der weltweit größten Software-Industrien, hat ein massives Digitalisierungs- und Bildungsproblem. Nicht nur haben weite Teile der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet. Im finanziell ärmsten Staat Indiens können mehr als 36 Prozent der Bevölkerung auch heute noch nicht lesen und schreiben. In Westbengalen, wo Kalkutta liegt, sind es fast 23 Prozent. Auch deshalb bedarf es der Pavement Typists.
Einige Kilometer außerhalb der Stadt, es dauert nicht lange, beginnen die unendlichen Weiten der Reisfelder. Hier wird der Reis geerntet wie vor Hunderten von Jahren. Mit einem mobilen Fotostudio hat Anja Bohnhof direkt auf den Reisfeldern gearbeitet und die Männer und Frauen fotografiert, die von Hand die Reispflanzen ernten und die Rispen dreschen. Die Härte der Arbeit wird unmittelbar spürbar, obwohl aus den Portraits zuallererst ein unbändiger Stolz und eine bescheidene Schönheit sprechen.
Vor dem bemerkenswerten Hintergrund, dass weltweit Millionen von Kleinbauern auf kleinsten Flächen den größten Teil aller Lebensmittel produzieren, stellt sich hier die Frage, wie globale Landwirtschaft bei einer stetig wachsenden Weltbevölkerung ökologisch und sozial verantwortungsvoll gestaltet werden kann.
Anja Bohnhofs Fotografien berichten von Indien, von den Menschen dort, von den schwierigen Lebensbedingungen, von den Spannungen in einem der größten Länder der Erde. Ich sage bewusst „berichten“, denn Anja Bohnhofs Herangehensweise ist äußerst analytisch und konzeptionell. Sie arbeitet in Serien und durch ihre künstlerischen Entscheidungen, beispielsweise das Einziehen des Hintergrundes, die Platzierung der Portraitierten, ermöglicht und forciert sie eine Konzentration auf die Aspekte, die ihr in den Serien wichtig sind.
Und so berichten Anja Bohnhofs Serien „Books for Sale“, „Typosphere“, „Krishak“ und „Tracking Gandhi“ mitunter von der Wasserknappheit, von Analphabetismus, von Digitalisierung, von Menschenwürde, von globaler Landwirtschaft.
Ein Aspekt, der sich mir in Anbetracht von Anja Bohnhofs Fotografien immer wieder aufdrängt ist folgender:
Es wird unheimlich spürbar, wie „entmaterialisiert“ und „unsichtbar“ viele Dinge in unserer europäischen Lebenswelt ablaufen, von der Wasserversorgung über die behördliche Verwaltung bis hin zu Bildung, natürlich eine Folge der Digitalisierung.
Dagegen erscheinen mir die einfachen Dinge in Anja Bohnhofs Fotografien oft von verblüffender Schönheit bis ins Detail. Die Stoffe, das Material, die Farben, die Muster. Hier pflegt eine Kultur einen grundsätzlich anderen Umgang mit dem Materiellen. Es hat in Indien einen grundsätzlichen Wert, anders als es in Wohlstandsgesellschaften denkbar ist. Das liegt vor allem daran, dass die Bevölkerung über viele Jahrzehnte in materieller Armut gelebt hat.
In Anja Bohnhofs Fotografien fällt vieles auf, was uns fremd ist, aber es gibt auch zahlreiche Momente, die wir unmittelbar auf uns selbst beziehen. So ist in ihren Arbeiten sowohl Trennendes als auch Verbindendes zwischen den Kulturen spürbar. Allgegenwärtig ist ein großer Respekt vor der Fremde, den Menschen und ihrer Lebensweise.
Das mag auch daran liegen, dass Anja Bohnhof in ihrem künstlerischen Vorgehen den westlich geprägten Blick nicht verschleiert. Der Modus des Portraits erinnert an Klassiker der westlichen Fotogeschichte wie August Sander. Das Freistellen des Motivs und die Vergleichbarkeit der Motive entsprechen einem analytischen Bedürfnis nach Klarheit. Und so offenbaren die Bilder, dass hier aus einer anderen Kultur kommend geschaut wird.
Anja Bohnhof ist eine Kennerin Indiens. Vor fünfzehn Jahren reiste sie das erste Mal dorthin. Ihr umfassendes Wissen, ihre konzeptionelle Herangehensweise, aber auch, und davon sprechen die Portraits, Anja Bohnhofs Fähigkeit, einen Kontakt auf Augenhöhe zu den Menschen vor Ort aufzubauen, machen sie zu einer ausgezeichneten Vermittlerin zwischen den Kulturen. Für ihre außerordentlichen Leistungen im Bereich der Deutsch-Indischen-Beziehungen erhielt Anja Bohnhof 2015 den Gisela Bonn Preis.
Die Relevanz von Anja Bohnhofs Werk bestätigen zahlreiche Stipendien, Ausstellungen und Preise, nicht nur in Europa, sondern, und das ist eine besondere Auszeichnung, auch in Indien selbst.
Besonders die Arbeit „Tracking Gandhi“ ist in renommierten Institutionen in Indien gezeigt worden wie dem National Gandhi Museum in New Delhi, der Satya Art Gallery in Ahmedabad. Zudem wird sie als Dauerausstellung im Museum der Mahatma Gandhi Mission University gezeigt, von der Anja Bohnhof auch eine Ehrenprofessur bekam.
Ihre Werke sind in wichtigen Sammlungen wie der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, der Bundeskunsthalle und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden vertreten, um nur einige zu nennen.
„In India you have to surrender, before you win“, ein Zitat von Robert Gregory aus dem Roman Shantaram. Das genau reizt mich an Indien, dass man dort mit seinen Vorstellungen, vorgefassten Meinungen, und eingeengten Sichtweise nicht weit kommt. Man muss sich einlassen, hingeben im besten Sinn und dann öffnen sich Möglichkeiten. Und natürlich haben sich Netzwerke, Bünde und echte Freundschaften ergeben über die Zeit und ich freue mich immer sehr, dort mit „welcome home“ von meinen Freunden und Kollegen begrüßt zu werden.