Hier kommt keiner durch!
von Isabel Minhós Martins
Deutsch von Franziska Hauffe / ab 3 Jahren
Weitere Vorstellungen mobil und im Studio
Dauer: ca. 30 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG, Berlin im Auftrag für Klett Kinderbuch Verlag GmbH.
FOTOS Tobias Kreft
// BESETZUNG
Aufpasserin 1 Veronika Wider
Aufpasserin 2 Johanna Graen
Regie Cora Sachs / Bühne & Kostüme Cora Sachs / Musik Nis-Momme Köpp / Dramaturgie Michael Kaup / Regieassistenz Lena Kern / Technischer Leiter Klaus Herrmann / Bühnenmeister Michael Bröckling / Ton & Licht Juri Zitzer / Requisite Sona Ahmadnia & Annette Seidel-Rohlf / Leitung Kostümabteilung Edith Menke / Maske Ramona Foerder & Ulla Bohnebeck
Anfertigung der Kostüme und Dekorationen in den Werkstätten des Theater Paderborn.
// Inhalt
Also eigentlich ist doch genug Platz für alle da, oder? Pustekuchen! Zu ärgerlich, dass der General einen Löwenanteil der Bühne für sich ganz allein reserviert hat. Privateigentum – betreten aller strengstens verboten! Sein Aufpasser soll aufpassen, dass sich gefälligst alle daran halten. Und der nimmt seinen Job sehr ernst. Aber irgendwann haben die anderen die Nase voll. Frechheit! Warum sollen sie sich quetschen, wenn da hinten doch noch was frei ist? Nur weil irgendein Schnösel das einfach beschlossen hat? Darf der das eigentlich – und wer darf hier überhaupt was? Als Vorlage dient das „grenzüberschreitende Wimmelbilderbuch“ von der portugiesischen Autorin und Kommunikationsdesignerin Isabel Minhós Martins (*1974) mit lebhaften Illustrationen von Bernardo P. Carvalho (*1973). Das Bilderbuch übersetzt Themen wie Grenzen, Entscheidungsgewalt und Widerstand humorvoll und kindgerecht schon für kleinste Rebell:innen und wurde dafür unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 und dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2017 für Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnet.
// Isabel Minhós Martins (*1974)
Isabel Minhós Martins, 1974 in Lissabon geboren, hat schon immer gerne gelesen und liebt es, alle Arten von Geschichten zu hören. Geschichten, die von ihren Großeltern, ihren Nachbarn, ihren Tanten und Freunden erzählt wurden und werden. Seit jeher ist sie an Worten interessiert, daran, was wir mit Worten und was Worte mit uns machen können. Obwohl sie sich nach der Schule mehr für Journalismus und Literatur interessierte, entschied sie sich, einem anderen Weg und damit auch ihren Freunden zu folgen… nämlich Kunst zu studieren. Nach einem weiteren Studium im Bereich Kommunikationsdesign an der Hochschule für Bildende Kunst in Lissabon gründete sie mit drei Freunden den Verlag Planeta Tangerina. Im Jahr 2004 veröffentlichte der Verlag „Um Livro para Todos os Dias“ (Ein Buch für jeden Tag), das erste Buch mit Isabels Texten. Danach schrieb sie viele andere Bücher, die meisten bei Planeta veröffentlicht, die mittlerweile in vielen verschiedenen Ländern erschienen sind. Sie erhielt eine Auszeichnung beim 1. Internationalen Preis von Compostela in der Sparte Bilderbücher. Sie wurde für den White Ravens Katalog. Besonders stolz ist sie darauf, dass Planeta Tangerina 2013 auf der Kinderbuchmesse in Bologna als bester europäischer Kinderbuchverlag ausgezeichnet wurde.
Quellen:
Internationalen Kinder- und Jugenbuchwochen 2018, „Isabel Minhós Martins“,
<https://www.kibuwo-koeln.de/autoren-2018/isabel-minhos/>
// Politische Bildung
Der Klappentext des Bilderbuchs beschreibt die zentrale Konfliktsituation:
„In diesem Buch ist der General der Bestimmer! Er will unbedingt der Held in dieser Geschichte sein und alle rechten Buchseiten für sich alleine haben! Sein Aufpasser soll die Grenze bewachen: Hier kommt keiner durch! Doch von links drängen immer mehr Leute und wollen hinüber […].“ (Minhós Martins/Carvalho 2017) Dem portugiesischen Autoren-lllustratoren-Team Isabel Minhós Martins und Bernardo P. Carvalho ist es mittels dieses ausgezeichneten (Deutscher Jugendliteraturpreis 2017) Bilderbuchs gelungen, zunächst zu irritieren und doch zugleich die Rezipierenden von der ersten Seite an zu involvieren. Weder die Simplifizierung in Bild und Text noch die vielen leeren weißen Seiten mindern die Darstellung der Konfliktsituation. Im Gegenteil, die Simplizität und Reduktion schaffen geradezu Raum für Interpretation. Die extravagante Darstellung der Grenze mittels Buchfalz und der Titel „Hier kommt keiner durch!“ provoziert die Betrachtenden zur Anteilnahme bis hin zum Ich-Bezug. Ein jeder, vom Grundschulkind bis hin zum Erwachsenen, kann die illustrierte Situation (Gehorsam, Verbot) in einen persönlichen Kontext setzen.
Das oberste Ziel politischen Handelns ist der gewaltfreie Umgang mit Konflikten. Das Autoren-Illustratoren-Duo stellt auf den ersten Seiten des Buches unmissverständlich oben genannten Konflikt dar: die Grenze, das Verbot, der bewaffnete Aufpasser. Dem gewaltfreien Umgang, ergo dem politischen Handeln, stehen alle nachfolgenden Buchseiten zur Verfügung – das Interesse der Rezipierenden ist geweckt. Auch politisches Handeln ist unabdingbar mit Interesse verknüpft, dem Interesse an der gemeinsamen Welt, gepaart mit der Bereitschaft sich einzubringen (vgl. Rändere 2008, 21; Wintersteiner 2017, 2).
Bis genau zur Buchmitte, dem Wendepunkt der Geschichte, skizzieren Minhós Martins und Carvalho eine scheinbar wahllos anwachsende Gemeinschaft, die u. a. aus einem tanzenden Pärchen, einem Polizisten, den Fußball spielenden Jungen Lionel und Ronaldo sowie aus fantastischen Figuren, z. B. einem Geist und an bekannte fiktionale Figuren angelehnte Gestalten, wie E.T. und Rotkäppchen, besteht. Die vielen heterogenen Figuren sind jedoch in ihrem Interesse (Teilhabe am Konflikt) an der rechten Buchseite vereint. Dieser zahlenmäßigen Übermacht, die auch verbal ihren Unmut und Widerstand formuliert („So ein Mist!“, „Herr Aufpasser, lassen Sie uns durch …“ [vgl. Minhós Martins/Carvalho, o. S.]), steht, auf den ersten Blick, genau ein bewaffneter Aufpasser, der spätere Held der Geschichte, gegenüber. Der zweite, genauere, sachkundigere Blick dechiffriert die Darstellung sowohl in eine soziale als auch in eine politische Dimension. Soziales Verhalten verlangt u. a. Gehorsam (Einhaltung von Regeln und Verboten) von den Individuen gegenüber der Gemeinschaft (vgl. Heintel 1977, 37 f.). Dieser Habitus ist überproportional mit der plakativen Darstellung der leeren rechten Seite, dem Buchfalz als Grenze und insbesondere dem Innehalten und Einhalten der Verbotsregel aufgezeigt. Damit gibt es einen äußeren sichtbaren, aber auch einen gewichtigen inneren, sozialen Konflikt.
Die große Gefahr, dass soziales Verhalten (u. a. Einhalten von Regeln) politisch missbraucht werden kann, wird durch die absurde Forderung des Generals, alle rechten Buchseiten für sich zu beanspruchen und eine Verbotsregel anzuordnen, aufgezeigt.
In dieser Geschichte handeln Menschen politisch; besonders hervorzuheben ist der Aufpasser (Unterlassungshandlung – das Nicht-Durchsetzen der Anordnung vom General). In der Gemeinschaft entsteht aus anfänglicher Verwunderung Widerstand, aus Neugierde wird, wenn auch vielleicht zum Teil unbewusst, politische Teilhabe. Am prägnantesten handelt jedoch der Aufpasser, der Gegenpol zur Gemeinschaft. Im Laufe der Geschichte muss er die Anordnung des Generals kritisch hinterfragen und seine politische Haltung veranlasst ihn schließlich zum Handeln. Zum Zeitpunkt, da der General dem Aufpasser die Konsequenzen seines Handelns aufzeigt, kommt die Sternstunde der Gemeinschaft. Interesse, Anteilnahme, Teilhabe und Mut zum Handeln werden sichtbar und zeigen eine politische Haltung. So kommen die Figuren zurück auf die bereits überquerte Buchseite und bringen ihre Haltung zum Ausdruck, als der General den Aufpasser verhaften lassen will. Sie stellen sich dem General entgegen und äußern lautstark ihr Unverständnis und ihre Wut: „Verbrecher!!“, „Das ist ungerecht!“ (Minhós Martins/Carvalho 2017, o. S.). Außerdem stärken sie den Aufpasser durch Ausrufe, wie „Es lebe der Herr Aufpasser!“, „Er ist unser Held!“ (Ebd., o. S.).
Quelle:
Freudenau T. „Hier kommt keiner durch!“ in der Grundschule . kjl&m. 2019; 71(2).
// Grenzen Europas
Eine fließende Grenze zwischen Rettung und Gefahr: Ließe sich das europäische Projekt nicht trefflich durch diese Formulierung beschreiben? Nirgendwo lässt sich zurzeit das Wechselspiel von Grenzaufhebung, Grenzüberschreitung und Grenzziehung so gut studieren wie an Europa. Das Projekt der EU lebt in hohem Maße vom Pathos der fallenden Grenzen, andererseits wird allmählich deutlich, dass dieses Projekt nur eine politische Zukunft hat, wenn Grenzen gezogen werden. Die Bedeutungslosigkeit alter europäischer Binnengrenzen korrespondiert so nachdrücklich mit der für viele unüberwindlichen Schranke, die durch die Schengen-Grenze aufgerichtet ist. Wer immer eine Antwort auf die Frage nach der Identität Europas geben will, kommt nicht umhin, anzugeben, was Europa nicht ist. Auch wenn es nicht nur um die Grenzen eines Territoriums geht, sondern eben auch um die Grenzen eines Selbstverständnisses, wird von einer europäischen Identität nicht gesprochen werden können, solange nicht klar ist, warum und in welcher Weise das Europäische im Osten des Kontinents, im Vorderen Orient, im Mittelmeer und am Atlantik seine Grenze findet und finden muss. Da es keine geografischen, kulturellen oder ethnischen Grenzen Europas gibt, die von vornherein feststünden, und da das, was gerne als Wurzel und Ausdruck der Eigenart Europas gesehen wird – die griechisch-römische Antike, das Christentum und die Aufklärung beziehungsweise das davon abgeleitete Insistieren auf Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte –, entweder obsolet erscheint oder selbst universalisiert worden ist, ist die Frage nach den Grenzen und damit nach der Identität Europas selbst nur über eine politische Willensbildung zu erreichen. Genau weil Grenzüberschreitungen und Universalisierungsprojekte das moderne Europa im positiven und im negativen Sinn immer auszeichneten, ist die Frage nach den Grenzen Europas immer schon verbunden mit den Perspektiven, diese Grenzen auszuweiten oder hinter sich zu lassen. Europa lässt sich deshalb nur voluntaristisch bestimmen. Europa wird das sein, was es unter gegebenen Umständen sein will.
Der Frage nach den politischen Grenzen Europas entzieht man sich in der Regel durch den Verweis auf die Idee einer europäischen Gemeinschaft. Zumindest im deutschen Sprachgebrauch weist der Begriff der Gemeinschaft durchaus ambivalente Konnotationen auf. Wir kennen die Dorfgemeinschaft und die Schicksalsgemeinschaft, die Religionsgemeinschaft und die Gemeinschaft der Heiligen, die Volksgemeinschaft und die Solidargemeinschaft, aber keine dieser Gemeinschaften dürfte ein tragfähiges Modell für Europa abgeben: auch nicht die Wertegemeinschaft. Was aber ist überhaupt eine Gemeinschaft?
All diesen Erscheinungsformen von Gemeinschaft ist eines gemeinsam: Die Kommunikation ihrer Mitglieder erfolgt nicht über Vereinbarungen, Tauschakte oder Verträge, sondern durch ein – im Idealfall – stillschweigendes Verständnis. Wer in einer Gemeinschaft lebt, weiß immer schon, worum es geht. Gemeinschaften müssen sich ihren Mitgliedern nicht ständig erklären, funktionierende Gemeinschaften müssen auch nicht ständig beschworen werden. In Gemeinschaften bilden das Gefühl der Zugehörigkeit und das Wissen, worum es der Gemeinschaft geht, eine Einheit. Das gilt für Familien und Clans genauso wie für Religionsgemeinschaften.
Während Gemeinschaft der Ort der Ver- und Gebundenheit ist, ist Gesellschaft der Ort der Freiheit. Subjekt der Freiheit ist das aus allen Bindungen entlassene Individuum, Urbild dieser Freiheit ist der Handel, ihre erste paradigmatische Erscheinungsform ist der Händler: »Der Kaufmann […] ist der erste denkende und freie Mensch, welcher in der normalen Entwicklung eines sozialen Lebens erscheint.« Während die Gemeinschaft bindet, setzt die Gesellschaft die Menschen frei. Diese stehen einander natürlich nun nicht fremd und abweisend gegenüber, denn auch die Gesellschaft ist eine Form des Zusammenlebens. Aber die Individuen einer Gesellschaft bilden keine durch welche Kriterien auch immer festgelegte Gemeinschaft, sondern sie interagieren über einen Markt, im unmittelbaren und auch im übertragbaren Sinn.
Die Mitglieder einer Gesellschaft haben Interessen, die sie verfolgen, und sie sehen den anderen entweder als Bedingung für die Befriedigung dieser Interessen oder als Konkurrenten. Dementsprechend schließen sie nur strategische, zeitlich begrenzte Bündnisse, die formale Form ihrer Beziehung untereinander ist der Vertrag, die entscheidende Gestalt ihrer Kommunikation ist der Tausch, das Medium desselben das Geld. Die Maxime ihres Handelns ist das Nutzenkalkül, und aus der Abwägung ihrer Interessen und Bedürfnisse ergeben sich ihre Werte: »Damit eine Sache überhaupt als gesellschaftlicher Wert gelte, dazu ist nur erforderlich, dass sie auf der einen Seite im Ausschluss gegen andere gehabt, auf der anderen von irgendeinem Exemplar der menschlichen Gattung begehrt werde; alle ihre übrige Beschaffenheit ist schlechthin gleichgültig.« Werte drücken also Präferenzen und Begehrlichkeiten aus und können sich in dem Maße so rasch ändern wie diese. Gemeinschaften beruhen im Gegensatz zu Gesellschaften eben nicht auf Werten, sondern auf allen individuellen Präferenzen vorgeordneten »Stiftungen«: eine gemeinsame Abstammung, ein Bund, ein Schicksal, eine Geschichte, ein Mythos. Die vielbeschworene Wertegemeinschaft erweist sich unter dieser Perspektive als ein Widerspruch in sich. Gerade weil Werte je nach geänderter Interessenlage jederzeit »umgewertet« werden können, stellen sie keine verlässliche Basis für eine Gemeinschaft dar.
Die Idee der Nation wiederum, die seit dem 19. Jahrhundert bei der Bildung politischer Großgemeinschaften den Ton angab, ist ein Konzept, das durch Europa ja gerade überwunden werden sollte. Alle Versuche, Europa als eine Hyper- oder Supernation zu konzipieren, müssen sich die Frage gefallen lassen, warum der verpönte Nationalismus nur dann schlecht sein soll, wenn er kleine oder kleinere politische Gemeinschaften kennzeichnet, aber willkommen und gut wird, wenn es um eine überdimensionierte Größenordnung geht. Auch wenn diese Großnation die Konflikte der in ihr integrierten ehemaligen kleinen Nationen hinfällig werden lässt, ändert dies nichts daran, dass jeder überzogene Nationalismus ein Risiko darstellen wird. Warum es aus mittlerweile einsehbaren Gründen lächerlich ist, sich als glühenden Deutschen oder glühenden Österreicher zu bezeichnen, der glühende Europäer sich aber des Beifalls sicher sein kann, bleibt schleierhaft. Wer in der Politik »glüht«, sollte immer mit größter Skepsis beurteilt werden. Es ist dann auch nicht einzusehen, inwiefern das Konzept einer europäischen Nation, sofern es denn überhaupt eine realpolitische Chance hätte, das Verhängnis, das in der Idee der Nation schlechthin angelegt sein mag, neutralisieren könnte. Zu alledem kommt, dass, wenn schon, dann die Forcierung einer Gesellschaft als die gemeinsame Lebensform von Individuen gegenüber allen Zumutungen von Gemeinschaften als eine originär europäische Idee aufgefasst werden könnte.
Vielleicht verhält es sich mit Europa als einer potenziellen Gemeinschaft ähnlich wie mit Europa als einem potenziellen Bundesstaat: Es ist noch nicht so weit, und es ist vielleicht auch gar nicht erstrebenswert. Das staatsrechtliche Neuland, das die EU mit ihrer politischen Organisationsform betrat, hat vielleicht seine Entsprechung auf der Ebene der sozialen und emotionalen Verfasstheit dieses Gebildes. Von Europa als von einem Staatenverbund zu sprechen, um zu signalisieren, dass es sich weder um einen Staatenbund noch um einen Bundesstaat handelt, ist mittlerweile üblich geworden. Vielleicht sollte man auch aufhören, Europa unbedingt als eine Gemeinschaft in einem klassischen Sinn, das heißt in einem Singular zu denken. Vielleicht wäre eine mögliche Formel für Europa: so viel Gesellschaft wie möglich, so viele Gemeinschaften wie notwendig.
Quelle:
Liessmann, Konrad Paul, „Lob der Grenze“, 93-104. 12
// Humanitäre Intervention
Ein gutes Beispiel für die Anwendung der Tradition des gerechten Krieges beziehungsweise für den Rückgriff auf ihre Kriterien bieten die so genannten „humanitären Interventionen“. Dabei handelt es sich um (meist militärische) Interventionen eines oder mehrerer Staaten im Hoheitsgebiet eines anderen Staates mit dem Ziel der Verhinderung oder Beendigung massiver Menschenrechtsverletzungen. Humanitäre Interventionen verletzen somit die Souveränität des intervenierten Staates einerseits und schützen (idealiter) die Menschenrechte der von der Intervention begünstigten Volksgruppe andererseits. Es handelt sich somit nicht um klassische Staatenkriege, weil die intervenierenden Staaten nicht ihre eigenen Interessen durchzusetzen suchen, sondern im Namen (der Menschenrechte) Dritter agieren. Da bei humanitären Interventionen also mit der staatlichen Souveränität auf der einen und Menschenrechten auf der anderen Seite zwei grundlegende Pfeiler der internationalen Ordnung in einen oft gewaltsamen Konflikt geraten, ist es nicht verwunderlich, dass sich um die Legalität und Legitimität der Interventionen eine breite Debatte entfacht hat. Auslöser waren und sind sowohl erfolgte Interventionen (wie 1999 im Kosovo) als auch unterlassenes Eingreifen in Situationen, in denen das Zuschauen nicht richtig war (wie in Ruanda 1994).
Die gesamte philosophische, (völker-) rechtliche und politische Debatte für und wider humanitäre Interventionen darzustellen kann nicht Ziel dieses kurzen Absatzes sein. An dieser Stelle soll die den humanitären Interventionen zugrunde liegende Idee anhand eines zentralen Dokuments aus der Debatte präsentiert und die Bedeutung der Tradition des gerechten Krieges für ihre Entstehung und Begründung illustriert werden. Gemeint ist der Abschlussbericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), der 2001 unter dem Titel „The Responsibility to Protect“ veröffentlicht wurde. Der Auslöser für die Einsetzung der Kommission war der UN-Millenium Bericht von Kofi Annan, in dem dieser die Staatengemeinschaft aufforderte, sich Gedanken über das Dilemma zu machen, das der Konflikt zwischen massiven Menschenrechtsverletzungen einerseits und dem Prinzip der Nicht-Intervention aufgrund staatlicher Souveränität andererseits auslösen kann. So zitiert der ICISS-Bericht gleich zu Anfang die von Annan aufgeworfene Problematik:
„[…] if humanitarian Intervention is, indeed, an unacceptable assault on sovereignty, how should we respond to a Rwanda, to a Srebrenica – to gross and systematic violations of human rights that affect every precept of our common humanity?“
Das Dilemma ist somit deutlich. Die Antwort der Kommission ist hier insofern besonders interessant, da sie einerseits eine Art internationalen Minimalkonsens (allerdings auf nicht-staatlicher Ebene) abbildet und andererseits begrifflich explizit auf die Tradition des gerechten Krieges referiert.
Souveränität als Verpflichtung und Intervention als Nothilfe Grundlegend für den Ansatz des ICISS ist die Auslegung des Prinzips staatlicher Souveränität. Das ICISS sieht nämlich in der Souveränität keinen Blankoscheck für jedwedes staatliche Handeln, sondern verbindet mit Souveränität konzeptuell eine Verantwortung des Staates für die eigene Bevölkerung. „Souveränität verpflichtet“ könnte man zusammenfassen, und sie verpflichtet an erster Stelle dazu, den Bürgern Sicherheit und die Einhaltung ihrer Menschenrechte zu garantieren. Solange ein Staat dieser Verantwortung gegenüber seinen Bürgern nachkommt, ist er gegen Interventionen von außen geschützt und diese gelten als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Anders sieht es aus, wenn diese Aufgabe nicht erfüllt wird:
„Where a population is suffering serious harm, as a result of internal war, insurgency, repression or state failure, and the state in question is unwilling or unable to halt or avert it, the principle of non-intervention yields to the international responsibility to protect.“
Gewissermaßen subsidiär zur staatlichen Verantwortung für seine Bürger greift in einem solchen Fall die internationale Verantwortung für die Bürger als Menschen. Geschützt wird von der Responsibility to Protect dann nicht das Prinzip der staatlichen Souveränität als solches, sondern die Bürger und die Einhaltung ihrer Menschenrechte. Da die Souveränität und das Recht auf Nicht-Einmischung konzeptuell verbunden sind mit der Schutzverpflichtung des Staates für die Bürger, verliert ein Staat seine (uneingeschränkte) Souveränität, wenn er der mit ihr verbundenen Verantwortung nicht nachkommen kann. In einer solchen Situation „wird aber die Verantwortlichkeit der Staatengemeinschaft aktiviert“ und das Prinzip der Nichteinmischung überschrieben. Die Basis der Responsibility to Protect und somit für eine Intervention sieht das ICISS in den folgenden Punkten:
„A. obligations inherent in the concept of sovereignty;
B. the responsibility of the Security Council, under Article 24 of the UN Char-ter, for the maintenance of international peace and security;
C. specific legal obligations under human rights and human protection decla- rations, covenants and treaties, international humanitarian law and national law;
D. the developing practice of States, regional organizations and the Security Council itself.“
Das Souveränitätsverständnis steht also sowohl als Basis für das Prinzip der Nichteinmischung, als auch begründend für die internationale Responsibility to Protect und damit eine die staatliche Souveränität durchbrechende Intervention. Hier zeigt sich noch einmal das neue Verständnis von Souveränität als Verantwortung: Souveränität kommt zwar dem Staat zu, aber nur in dem Maße und solange wie der Staat im Austausch seinen Angehörigen (grundlegende) Sicherheit garantiert.
Der Ansatz spiegelt somit einen Perspektivwechsel wider, nach dem die problematisierten Situationen in erster Linie aus der Sicht der individuellen Opfer wahrgenommen werden und nicht so sehr aus der Sicht des Staates. Letztlich stehen also die Individuen an der Basis sowohl der Legitimation von Souveränität als auch von Interventionen.
Quelle:
Meßelken, Daniel, „Gerechte Gewalt?“ 2012, 45-47.