Inge und Hans Altenkamp aßen abends immer warm. Heute gab es Bohnensuppe und Vanillepudding mit Himbeersoße. Eine Einheit an der nicht gerüttelt werden durfte. Die wenigen Gerichte die sie von ihrer Mutter erinnerte, kochte sie nicht mehr. Zu ausgefallen, meinte Hans.
Pünktlich auf die Minute schloss er täglich um 17:10 die Wohnungstür auf.
„Hallo, ich bin da!“, Hans betrat den Flur und stellte seine Tasche ab. Sorgfältig wurde der Mantel auf den Bügel gehängt. Dann zog er die Schuhe aus und klopfte die Sohlen gegeneinander. Akkurat ausgerichtet stellte er sie in den Schuhschrank.
In Pantoffeln kam er in die Küche: „Hm, es gibt Bohnensuppe, es riecht so gut.“ Er rieb sich vergnügt die Hände.
„Wir können gleich essen, ich mache nur noch den Pudding in die Schüsselchen“, rief Inge ihm nach, während er ins Bad ging, um sich ausgiebig die Hände zu waschen.
„Haben sich die Kinder gemeldet?“, rief er.
Inge antwortete nicht. Dass er immer aus dem Bad mit ihr sprechen musste. Er wusste genau, dass sie das nicht leiden konnte. Hans nörgelte an ihr nie herum. Das fände sie unnormal sagte sie einmal zu ihm. Wieso, es gäbe nichts zu nörgeln.
Er fände es immer gemütlich und sauber. Inge wäre nicht zänkisch wie viele Frauen und mit dem Haushaltsgeld käme sie auch prima zurecht. Außerdem wären sie schon Ende fünfzig und bald dreißig Jahre verheiratet, da wäre doch vieles Gewohnheit.
„Haben die Kinder angerufen? Sie wollten doch mit uns besprechen, wie wir unseren Hochzeitstag feiern wollen.“ Hans setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch. Er hatte seine braune, an den Ellenbogen lederverstärkte Hausjoppe angezogen.
„Ich sagte ihnen, dass wir uns noch nicht einig sind.“, Inge band ihre Schürze ab und setzte sich.
„Wir waren uns einig! Wir wollen nicht sparen, Inge. Es ging nur darum ob wir in der „Gartenklause“ oder im „Alten Kaiser“ bestellen. Im „Alten Kaiser“ ist es etwas teurer, aber gediegen. Was hältst du übrigens davon, wenn wir Tante Gretchen auch einladen und vielleicht noch Ernst.“
Die ganzen dreißig Jahre waren „gediegen“, immer ordentlich, Jahr ein – Jahr aus solide und nach Plan.
Die Kinder kamen nachdem Hans verbeamtet wurde. Nun konnte Inge zu Hause bleiben, das Auskommen war gesichert. Sie lebten sparsam und fuhren einmal im Jahr in den Urlaub nach Stallwang im Oberen Bayrischen Wald. Den restlichen Urlaub von Hans verbrachten sie immer bei seinen Eltern. „Gediegen“ war eines der Lieblingsworte seiner Mutter.
„Inge, du hörst mir ja gar nicht zu. Was meinst du, ob es den Kindern gefällt, wenn wir im „Alten Kaiser“ bestellen? Wiederum sollten wir es nicht mit ihnen besprechen, es ist ganz allein unsere Entscheidung! Nun sag doch was!“, holte er sie aus ihren Gedanken.
„Hans hast du schon einmal drüber nachgedacht, wie langweilig unsere Ehe ist? Warum geben wir das Geld nicht für eine Reise aus? Tante Gretchen wird 88, aber wir noch nicht. Und Ernst siehst du seit 28 Jahren täglich dir gegenüber am Schreibtisch.“, bei diesen Worten sah sie an Hans vorbei auf ein Tellerbord mit Ziertellern.
„Aber Inge, wir sehen uns auch täglich.“
„Hans, ich bitte dich. Du bist mit Ernst nicht verheiratet. Im Übrigen würden die Kinder es verstehen. Sie sagen so oft, wir sollten uns etwas leisten.“
„Ich verstehe dich nicht. Wir fahren jedes Jahr in die Ferien und zu den Eltern. Meinst du das können sich andere leisten, die nur einen Verdiener in der Familie haben? Du hast nicht einmal auf Urlaub verzichten müssen. Was sollen meine Eltern denken, wenn der Dreißigste nicht gefeiert wird? Nein, ich bin nicht damit einverstanden. Und überhaupt so ein Unsinn, zwei Monate später fahren wir doch sowieso nach Stallwang.“
Unwillig nahm sich Hans noch einmal von der Suppe. In seinem Gesicht spiegelten sich Ärger und Unverständnis. Inge hatte es gut, war den ganzen Tag zu Hause, brauchte sich um nichts zu kümmern. Etwas Besseres kann sich eine Frau doch nicht wünschen, noch dazu heutzutage, wo alles teurer und ungewisser wird!
„Auch im Öffentlichen Dienst ist der Arbeitsplatz nicht mehr so sicher wie früher!“, fügte er an.
„Hans, das stimmt doch nicht. Du bist Beamter“, erwiderte Inge mit einem leicht spöttischem Lächeln.
Schon mit vierzehn wollte sie Archäologin werden. Archäologin und nichts anderes. Erst das Abitur, dann das Studium in Berlin.
Sie fand eine Stelle im Institut für Altertumsforschung, halbtags. Damit war Hans anfangs einverstanden. Ihre Schwiegermutter vertrat die Meinung, dass eine Mutter zu ihren Kindern gehöre und bald war Hans der gleichen Ansicht.
Der Große sagte erst vor kurzem: „Mutter, wie hältst du euer spießiges Leben nur aus?“ Inge war beleidigt. Aber dann kam es ihr vor, als sei das ein Zauberwort gewesen, als erwachte sie. Wolf Biermanns altes Lied fiel ihr ein „Das kann doch nicht alles gewesen sein, dass bisschen Sonntag und Kinderschrein. Das muss doch noch irgendwo hingehn.“
In ihrer Erinnerung suchte sie nach dem Zeitpunkt, ab wann Hans so kleinkariert geworden war. Oder war er immer schon so und sie hatte es in ihrer Verliebtheit nicht bemerkt? Und diese Urlaube!
Sie sah sich in der Küche um. Das tägliche Geschirr mit altmodischem Dekor, passend zu Bohnensuppenspießigkeit.
„Hans“, versuchte sie es noch einmal und fasste über den Küchentisch nach seiner Hand, „wir gönnen uns wenig. Es ist doch unser Tag. Da wäre es schön eine kleine verspätete Hochzeitsreise zu machen. Sieh mal, damals konnten wir uns keine leisten und ich möchte mal etwas anderes kennenlernen. Wir können im Reisebüro nach Angeboten schauen, vielleicht eine Städtereise.“
Noch nie hatte Inge bei ihrem Mann so einen entgeisterten Gesichtsausdruck gesehen.
„Aber Inge“, fing er leise an, „ich kenne dich nicht wieder. Wie kommst du bloß auf solch extravagante Ideen?“ Er steigerte sich im Ton: „Wir gönnen uns nichts? Bist du plötzlich unzufrieden? Wer bezahlt denn das alles hier, den ganzen Schnickschnack den du kaufst? Alten Muff rausschmeißen, nennst du das. Du möchtest ein neues Service, was wir gar nicht brauchen. Letztens neue Gläser. Ich sage ja nichts, aber wo Schluss ist, ist Schluss! Die gnädige Frau möchte mal was anderes sehen. Leute wie wir fahren noch ganz normal in die Ferien!“ Hans riss sein Puddingschälchen an sich und löffelte verbissen in sich hinein.
„Ich möchte doch nur…“
„Schluss habe ich gesagt! Ich weiß nicht wo du die Idee her hast, aber schlag sie dir aus dem Kopf. „Gartenklause“ oder „Alter Kaiser“, was anderes kommt nicht in Frage!“
Ihre Suppe war inzwischen kalt geworden. Sie wollte doch nur…
„Hallo, Frau Altenkamp hören sie mich? Machen Sie mal die Augen auf!“, rief der Notarzt und schlug mit dem Handrücken leicht auf ihre Wange. Inge hörte ihn nicht.
„Machen Sie mal ein bisschen Platz, Herr Altenkamp. Wir nehmen Ihre Frau mit ins Krankenhaus!“, mit diesen Worten und einer forschen Bewegung schob der Rettungsassistent den Esstisch und die Stühle beiseite, um für die Trage Platz zu machen.
„Muss ich nicht Wäsche einpacken?“, meinte Hans, ohne zu erfassen wie unwichtig diese Frage war.
„Später können Sie Sachen nachbringen. Jetzt muss es schnell gehen.“
„Was hat denn meine Frau, ist es etwas mit dem Herzen?“
„Das wissen wir noch nicht genau. Sie muss so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Nehmen Sie alle Medikamente mit, die Ihre Frau zurzeit einnimmt. Das wäre wichtig!“, war die kurze Antwort des Arztes: „Am besten, Sie fahren gleich hinter uns her.“
Inge ist verwirrt. Warum, oh mein Gott, warum liegt sie auf dem Boden?
„Meine Frau kommt zu sich, Herr Doktor. Sie bewegt sich.“ Hans beugte sich über sie und rief: „Inge, kannst du mich hören, Inge! Der Arzt ist hier!“
Arzt? Sie erinnert sich, sie hatten gegessen, Bohnensuppe und Vanillepudding. Was machen die mit ihr? Sie will, dass Hans ihr auf die Couch hilft.
„Es wird alles wieder gut, Inge. In der Klinik werden sie dir helfen. Beruhige dich!“
Die Sanitäter trugen sie aus dem Haus und schoben die Trage in den Krankenwagen. Der Arzt sprang hinein und dann knallten die Türen zu.
„Siehst du, wir sind schon da. Du bist in der Notaufnahme.“, sagte Hans.
Die Schwester am Eingang dirigierte Hans ins Wartezimmer. Inge wurde in ein Bett gehoben. Die Krankenhausroutine nahm ihren gewohnten Gang.
„Der Ehemann sagte, sie sei während des Essens seitlich vom Stuhl gekippt. Kleine Prellung an der rechten Schläfe, sonst keine äußeren Verletzungen. Schwester Andrea, rufen Sie die Röntgenassistentin an, wir brauchen ein CT.“, sagte der Arzt, nachdem er Inge untersucht hatte.
Eine freundliche Schwester sah ihr ins Gesicht und sagte: „Frau Altenkamp, ich bin Schwester Andrea. Ich ziehe Ihnen ein Krankenhaushemd an. Haben Sie keine Angst.“
Inge versucht sich zu wehren. Sie will sich nicht ausziehen. Sie friert.
„Frau Altenkamp, es wird ein wenig kalt auf der Haut. Ich mache ein EKG, das kennen Sie sicher.“
„Ich nehme Ihnen Blut ab.“, sagte ein Krankenpfleger und stellte sich an die rechte Seite des Bettes.
Inge fühlt wie die Nadel ihre Haut durchsticht. Sie zuckt. Sie fühlt sich verlassen und bloß. Sie sieht dem Pfleger ins Gesicht und sagt, dass sie friert.
Doch er reagierte nicht, sah sie nicht einmal an. Dann löste er den Stauschlauch, nahm die Blutröhrchen und verschwand.
Der Arzt erschien in der Tür: „Ist die Röntgenassistentin unterwegs?“
„Ja, alles bereit. Wir fahren los.“, sagte Schwester Andrea.
Das Bett wurde wie von Geisterhand durch einen kalten Flur geschoben. Inge sah flackernde, helle Neonröhren sich in schnellem Tempo abwechseln. In den Plastikabdeckungen lagen noch die toten Insekten vom letzten Sommer. Am Kopfende erschien ein Gesicht.
„Frau Altenkamp, wir wollen Ihren Kopf untersuchen.“
Kopf untersuchen? Sie hat doch nichts mit dem Kopf. Sie will nicht untersucht werden, sie will nach Hause. Und wo ist ihr Mann? Inge will ihren Mann sprechen.
„Frau Altenkamp, nun mal nicht so unruhig. Es passiert nichts Schlimmes.“
Inge bittet, ihren Mann zu rufen. Altenkamp, Hans Altenkamp.
„Frau Altenkamp, machen Sie mal die Augen auf! Können Sie mich hören?“, fragte Schwester Andrea laut.
Sie sagt der Schwester sie soll nicht schreien, sie ist doch nicht schwerhörig!
„Wollen Sie etwas sagen? Ich kann Sie nicht verstehen“ Wieder schrie sie in Inges Ohr.
Inge schließt ermattet die Augen.
Das Bett wurde in den Untersuchungsraum für die Computertomographie gefahren. Zur Röntgenassistentin gewandt, sagte Andrea: „Die Patientin reagiert nicht. Ich helfe dir sie auf den CT-Tisch zu legen.“
Sie versucht sich aufzusetzen. Wieso reagiert sie nicht? Sie sagt der Schwester doch laufend, sie will ihren Mann sprechen.
Die Röntgenassistentin fuhr Inges Bett an den Tisch im CT-Raum und nahm die Bettdecke weg. „Puh, die stinkt. Warum hat sie keine Pampers an? Ich frage mich, was ihr die ganze Zeit da macht. Die ist doch mindestens seit einer dreiviertel Stunde da.“
„Komm reg dich ab. Sie hat nun mal noch keine Pampers. Du weißt doch, wie das in der Notaufnahme zugeht. Alle Räume voll. Und dann heute mit meinem Lieblingsarzt, einfühlsam und charmant. Zwei Eigenschaften, die schwer zu ertragen sind.“
Die Röntgenassistentin nickte verstehend und seufzte. Sie drehte Inge zu sich, schob Zellstoff unter ihren Po und ein hartes Rollbrett mit dessen Hilfe Inge vom Bett auf den Computertisch transportiert wurde.
Inge ist entsetzt. In die Hose gemacht? Sowas ist ihr doch noch nie passiert. Sie fühlt sich hilflos, sie schämt sich und versucht die Assistentin anzusprechen, die sich über sie beugt.
Sie legte die Bettdecke über Inge und wickelte ihre Arme ganz fest darin ein. Dann richtete sie Inges Kopf gerade und sagte: „Sie müssen nun versuchen den Kopf ganz ruhig zu halten, ich mache jetzt die Aufnahmen. Es tut nicht weh.“
Sie ging aus dem Raum und schloss die Tür. Der Tisch setzte sich in Bewegung und beförderte Inge in einen Ring in welchem sich etwas um sie drehte.
Plötzlich erfasst sie, dass die Schwestern sie nicht verstehen. Sie meint sie spricht, aber die Worte formen sich nur in ihrem Kopf. Sie kommen als unverständliches Gestammel über die Lippen. Hilfe! Panische Angst überkommt sie. Eben konnte sie die Arme bewegen, jetzt sind sie wie gelähmt. Mit aller Kraft versucht sie sich zu bewegen. Ah, die Beine gehorchen ihr noch. Sie zieht die Knie an.
„Frau Altenkamp, ganz ruhig liegen bleiben, wir sind gleich fertig.“, tönte eine Stimme.
Inge versucht von diesem Tisch zu steigen. Endlich hat sie einen Arm aus der Decke befreit.
Die Tür ging auf, die Assistentin kam herein und rief nach Andrea.
„Hilf mir mal sie zu fixieren, sonst fällt sie uns noch runter. Die hat bestimmt einen Schlaganfall.“
„Pscht“, zischte Andrea: „Das werden deine Bilder zeigen ob oder ob nicht. Vielleicht kann sie uns hören. Je anstrengender die Dienste, desto unbedachter das Personal. Aber lass man, es geht mir auch so.“
„Du hast Recht. Wenn es die eigene Mutti wäre, nicht wahr?“
Noch einmal wurde Inge fest eingepackt und beide gingen wieder hinaus.
Schlaganfall! Sie hat es deutlich gehört. Tränen rollen aus ihren Augenwinkeln.
Endlich war die Untersuchung zu Ende.
Ein anderer Arzt kam herein und trat an ihr Bett.
„Ich bin Radiologe und sehe mir die Bilder an, die gerade von ihrem Gehirn gemacht worden sind.“, stellte er sich vor.
Das Wort Gehirn macht ihr Angst. Sie sieht den älteren freundlichen Arzt an.
Er fasste Inges Hand und sagte: „Ich komme gleich nochmal zu Ihnen. Es dauert nicht lange. Schwester Andrea bringt Sie inzwischen zur Notaufnahme zurück.“
Wieder wurde das Bett über die Kliniksflure geschoben, wieder flackerten die Neonröhren über Inge.
„Herr Altenkamp, bitte kommen Sie einmal herein.“, forderte der Radiologe auf.
„Ihre Frau hat einen Schlaganfall erlitten. Es betrifft partiell die linke Gehirnhälfte, wir nennen es Aphasie. Das heißt, Ihre Frau versucht zu sprechen, es gelingen aber nur stark unverständliche Laute. Sie kann uns jedoch weitgehend verstehen. Sie kann sich bewegen.“
„Aber meine Frau ist doch keine achtzig. Einen Schlaganfall bekommen doch nur alte Leute. Vielleicht irren Sie sich, Herr Doktor.“, erwiderte Hans in seiner Verzweiflung.
„Leider, Herr Altenkamp, irren wir uns nicht. Die Bilder der Computertomographie zeigen es. Deswegen haben wir die Untersuchung durchgeführt. Auch wesentlich jüngere Leute können einen Schlaganfall bekommen. Ihr Frau kommt auf eine Station, denn sie muss natürlich vorerst im Krankenhaus bleiben.“, erklärte der Arzt.
„Was kann man denn tun?“, fragte Hans ängstlich.
„Sprachübungen zum Beispiel. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Das Weitere liegt in der Hand der Internisten. Wichtig ist, dass sofort Maßnahmen ergriffen werden. Sie können zu ihr gehen, Herr Altenkamp.“, beruhigend legte er Hans eine Hand auf die Schulter.
Hans kommt an ihr Bett. Sie sieht, wie bedrückt er wirkt. Sofort fühlt sie kalte Angst. Wenn er so blass ist, steht es schlecht. Pflegefall! Abgeschrieben! Das Ende!
Hans setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hand.
„Inge, du musst hierbleiben. Der Arzt erklärt dir gleich, was du hast und was man dagegen machen kann. Ich habe nicht alles verstanden, was er sagte. Nun sieh mich doch nicht so an. Ich komme dich morgen besuchen und bringe Wäsche mit.“
Sie dreht den Kopf zur linken Seite und weint.
„Siehst du, nun regst du dich auf. Dieses unsinnige Gespräch über die Reise hat dich aufgeregt. Ich sage doch, für unsereins sind solche großspurigen Unternehmungen nichts. Das würde deine Gesundheit noch viel mehr strapazieren. Der Lärm und die vielen Eindrücke. Es gibt sehr schöne Sendungen im Fernsehen über fremde Städte. Nun weine doch nicht. Mit viel Geduld wird es wieder werden.“
Hans gab sich wieder selbstsicher. Schließlich hatte er immer die Entscheidungen in der Familie getroffen. Und, wie sich zeigte zurecht. Er würde so eine Reise verkraften, aber wie er sah, warf Inge schon der Gedanke an eine Auslandsreise aus der Bahn.
In Inge stieg plötzlich eine unbeschreibliche Abneigung, gegen Hans hoch. Eine Reise im Fernsehen. „Alter Kaiser“, Suppen mit Pudding, Niedertreter und Schwiegermutter. Immer fürs Gediegene. Sie versuchte etwas zu sagen, schloss aber die Augen. Es hatte sowieso keinen Zweck. Er verstand sie ja nicht. So oder so verstand er sie nicht.
„Inge, mühe dich nicht zu sprechen. Das kannst du nicht sagt der Arzt.“
Hans stand auf und verabschiedete sich. Er beugte sich über sie und wollte ihr einen Kuss geben, doch sie drehte den Kopf zur Seite. Hans wandte sich beleidigt ab und stolzierte aus dem Raum.
Schwester Andrea kam mit dem Arzt herein.
„Frau Altenkamp, ich habe bereits mit ihrem Mann gesprochen. Sie haben einen Schlaganfall erlitten und können deswegen nur unverständlich sprechen. Ich weiß, dass Sie uns verstehen können. Alles wird anstrengend sein in nächster Zeit. Sie können alle Gliedmaßen bewegen. Sie haben Glück im Unglück gehabt. Es wird sich bessern.“
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich.
„Doktor, wir haben so viel zu tun, der Raum muss frei gemacht werden. Frau Altenkamp wird jetzt auf Station gebracht. Sie können sich hier nicht niederlassen zum Gespräch!“
Der Arzt seufzte: „Andrea hat Recht. Trotzdem, Frau Altenkamp, wenn die Zeit jetzt auch drängt, ich möchte Ihnen Mut machen. Nach vierundzwanzig Stunden machen wir ein Kontroll-CT und dann sehen wir weiter.
Er ging hinaus und Andrea folgte ihm. „Hat sie Chancen?“
„Ja durchaus. Sie wissen ja, die ersten Stunden sind die entscheidenden. Medikation und Sprachübungen. Trotzdem ein mühsamer Weg. Ich sage nie, dass es Chancen gibt, wenn das CT schlecht aussieht. Aber bei Frau Altenkamp ist das nicht der Fall, wenn es nicht einen zweiten Apoplex gibt.“
„Danke Doc und hoffentlich noch eine ruhigere Nacht.“, sagte Andrea und ging zu Inge hinein.
„Das Gleiche und Tschüss.“, antwortete er.
Schwester Andrea brachte Inge auf die Station.
Sie hatte einige Worte verstanden. Sprachübungen, Rehabilitation? Na und das würde sie schaffen. Langer Weg? Der konnte nur kürzer sein, als die dreißig Jahre bis hierher. Hans verstand sie nie, ob sie nun deutlich sprach oder gar nicht. Er ist ein guter Mensch. Sicher doch, aber er kann nicht aus seiner biederen Gefangenschaft.
Sie wusste es ganz plötzlich, übermächtig und unabwendbar wusste sie es. Wenn sie alles hinter sich hat, wird sie ihr Leben ändern. Sie wird Hans klar sagen, dass sie weitere Jahre Stallwang und all den spießigen Muff nicht mehr erträgt. Sie wird ihn verlassen.
Inge Altenkamp, du wirst dir Mühe geben und gesund werden.
Neu anfangen! Die Kinder würden es gut finden und ihre ersten Schritt begleiten.
„Das kann doch nicht alles gewesen sein, da muss doch noch irgendwas kommen! Nein? Da muss doch noch Leben ins Leben! Eben!“
„Mir war, als hätte Frau Altenkamp ganz leise etwas gesummt.“, sagte Andrea zu ihrer Kollegin auf der Station.
„Ja, ich habe es auch gehört, eine Melodie von Wolf Biermann. Ein schöner Text übrigens.“