Schauspiel von John von Düffel nach Homer
Wiederaufnahme
Besetzung
- Niemand / Odysseus: Hartmut Jonas
- Poseidon / Teiresias / Alkinoos: Henning Bormann
- Circe / Nausikaa: Ewa Noack
- Athene / Mutter / Arete: Alexandra Riemann
- 1 / Eurylochos / Demodokos / Freier 1: Robert Will
- 2 / Perimedes / Freier 2: Thomas Ehrlichmann
- 3 / Elpenor / Laodamas: Heiner Junghans
- Inszenierung: Jasper Brandis
- Bühne: Andreas Freichels
- Kostüme: Torsten Rauer
- Regieassistenz: Jan Gustke
- Abendspielleitung: Jan Gustke
- Inspizienz: Elke Wittek
- Soufflage: Lydia Voigt
Termine
Sa.08. Sep 2018 19:30 – 22:20 Uhr Pause ca. 20:50 Uhr Detmold, Landestheater
Mi.12. Sep 2018 19:30 – 22:20 Uhr Pause ca. 20:50 Uhr Detmold, Landestheater
Fr.14. Sep 2018 19:30 – 22:20 Uhr Pause ca. 20:50 Uhr Detmold, Landestheater
Do.25. Okt 2018 19:30 – 22:20 Uhr Pause ca. 20:50 Uhr Detmold, Landestheater
So.20. Jan 2019 18:00 – 20:50 Uhr Pause ca. 19:20 Uhr Detmold, Landestheater
Di.30. Apr 2019 19:00 – 21:50 Uhr Pause ca. 20:20 Uhr Herford, Stadttheater
Suche nach und Flucht vor dem Selbst:
„Odyssee – Die Geschichte von Niemand“
Superhelden kennen die meisten ‚Kultur‘-Konsumenten heute aus erfolgreichen Kino-Blockbustern, es sind zu außergewöhnlichen Taten befähigte, recht simpel strukturierte Typen mit dickem Bizeps in meist peinlich trivialen Geschichten für den Massengeschmack. Darüber verdrängt man gern, dass die europäische Kulturgeschichte mit Superhelden beginnt, die indes wesentlich differenzierter gezeichnet wurden als viele der heutigen plumpen Nachfahren: Homers „Odyssee“ erzählt von den Gefährdungen, Taten und Untaten, dem Wahrheits-Anspruch und der Amoral eines Helden des Überlebens: Odysseus.
Homers Epos beeinflusste wie kaum ein anderes Werk die abendländische Literaturgeschichte, Elemente der „Odyssee“ durchziehen die Kulturproduktion, ohne dass man sich meist der Quelle noch bewusst ist: Berichte von Helden, die Irrwege und Bewährungen aushalten müssen, um nach Hause zu finden, bilden das Gerüst ungezählter Romane und Filme. Zahlreiche Motive der „Odyssee“ haben sich als markante Bilder ins kollektive Bewusstsein eingeprägt: brutaler Kampf und schmachvoller Untergang, verhängnisvolle Liebe und törichter Hass, heldenhaftes Beharren und niedrigste Instinkte sind hier zwingend in eine Abfolge brisanter Bewährungssituationen eingeschrieben, so dass die „Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung“, noch bis ins vorige Jahrhundert zur Wissensbasis jedes kultivierten Europäers gehörte, ob in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß von 1781 oder einer der zahlreichen folgenden. Und verschiedentlich verweisen sogar andere literarische Kultfiguren auf dieses Werk: Goethes Werther etwa nimmt dieses Werk trotzig und zum Trost immer wieder als Lieblingslektüre vor – „Die Odyssee“ lesen und es „war alles gut.“ Auch wenn heute die diversen Konflikte und Mythen im rund 2800 Jahre alten Werk nicht mehr jedem geläufig sind wie zur Goethe-Zeit und manches zu Alltagsfloskeln geronnen ist, von dem der Sprecher nicht weiß, dass der Ursprung bei Homer liegt – das ‚Bezirzen‘ von der verführerischen Kirke oder die Bezeichnung des Alarms von den gefährlichen „Sirenen“ -, die Irrfahrt des Trojakämpfers aus Ithaka, der nach jahrzehntelangem Zermürbungskampf und schließlich grausamer Feindesvernichtung in der Fremde unter immensen Mühen und Schwierigkeiten zurück nach Hause findet, nur um dort erneut Gewalt vorzufinden, Tod und Zerstörung zu provozieren, beeindruckt nach wie vor. Zumal Odysseus sehr wohl als Mensch unserer Zeit lesbar ist. Das zeigte sich schon an der Beschreibung des ‚Helden‘ als destruktiver Charakter modernen Zuschnitts durch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in deren „Dialektik der Aufklärung“, das erschließt sich erneut auch in der faszinierenden Studie „Odysseus in America“ des amerikanischen Psychiaters Jonathan Shay, der anhand der „Odyssee“ akribisch die psychischen Nachwirkungen und Schäden von USSoldaten nach weltweiten Kampfeinsätzen deutet. Eines ist klar: Der Krieg ist bei Homer wesentlicher Ursprung menschlichen Übels und der Erzählanlass. Und darin folgt auch John von Düffel mit seiner Bühnenfassung als Auftragswerk für das Landestheater Homers Text. Auch ‚seine‘ „Odyssee“ ist kein martialisches Epos, vielmehr werden die Folgen des Krieges deutlich, mit Morden, Sterben, Gewissenskonflikten und psychischen Versehrungen durch die ausgeübte und erlittene Gewalt. Die Geschichte des Odysseus ist bei von Düffel wie bei Homer eine des Tötens, der Abtötung der eigenen Ängste, Skrupel und moralischen Hemmungen ebenso wie der Vernichtung von Freund und Feind.
Die Düffelsche Fassung orientiert sich dabei am episodischen Stil der antiken Vorlage – wir erfahren in mehreren Erzählphasen und ‚Reise‘-Etappen von den ‚Abenteuern‘ des Kriegers: der Blendung des Polyphem, der Vorbeifahrt an den Sirenen, der Verwandlung der Gefährten in Schweine durch die verführerische Kirke… Wir hören von den Frauen, die das Dasein des Odysseus prägen: von der Gattin Penelope, die auf seine Rückkehr hofft, aber den Rückkehrer nicht mehr erkennt, von seiner Mutter, die stirbt, ohne den Sohn noch einmal gesehen zu haben, der jungen Nausikaa, die sich des Gestrandeten mit Zuneigung und Fürsorge annimmt, von diesem jedoch keine ehrliche Gegenliebe zu gewärtigen hat. Und wir nehmen Anteil an dessen Versuchen, seiner durch traumatisierende Erfahrungen gezeichneten Existenz neuerlich Stabilität zu verleihen. Unverkennbar greift von Düffel zahlreiche Motive der homerischen Vorlage auf und erweist deren erzähltechnischer Raffinesse mit ihren Rückblenden und Volten seine Reverenz. Mit intellektuellem und poetischem Anspruch schafft er aus dem Mythos ein Stück Gegenwartstheater, das keinen zweifelsfreien Superhelden im Zentrum hat, vielmehr einen mit sich ringenden, von Schuld und Angst geprägten Kriegsveteranen, dessen Erfindungsgabe sowohl das Massaker in Troja beförderte als auch den eigenen Überlebenskampf ermöglicht mit natürlichen und widernatürlichen Gegenkräften. Schafft es dieser (je nach Wertung) listenreiche oder verlogene Soldat, seine Identität zurückzuerlangen, gelingt ihm die angestrebte Heimkehr (zu sich selbst), um vom „Niemand“ wieder zum „Ich“ zu werden? In Jasper Brandis Inszenierung als Uraufführung der Bühnenfassung von John von Düffel übernimmt Hartmut Jonas die Rolle des Odysseus.
John von Düffel
wurde 1966 in Göttingen geboren und wuchs u. a. auf in Londonderry/Irland, Vermillion, South Dakota/USA und diversen kleineren deutschen Städten. Er studierte Philosophie, Volkswirtschaft und Germanistik in Stirling/Schottland und Freiburg im Breisgau, wo er 1989 mit einer Arbeit über Erkenntnistheorie promovierte, und war anschließend Theaterkritiker. Seit 1991 arbeitet er als Autor und Dramaturg, u. a. am Theater der Altmark in Stendal, am Staatstheater Oldenburg, Theater Basel, Schauspiel Bonn, Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Theater Berlin.
Sein Debütroman „Vom Wasser“ (1998) wurde u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis des ZDF, dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt sowie dem Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg ausgezeichnet, für seinen Roman „Houwelandt“ (2004) erhielt er den Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen. 2007 hatte von Düffel bereits die „Heinz-Dürr-Stiftungsprofessur” in Hildesheim inne, 2008 war er Inhaber der Poetikprofessur an der Universität Bamberg, derzeit ist er Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Unter seinen zahlreichen Bühnen-Bearbeitungen seien die Theater-Adaptionen von Thomas Manns „Buddenbrooks“ (2005, Thalia-Theater Hamburg) und „Joseph und seine Brüder“ (2009, Düsseldorfer Schauspielhaus) sowie die Shakespeare-Bearbeitungen „Rom. Römische Trilogie“ (2016, Staatstheater Nürnberg) und „König Lear“ (2017, Theater Koblenz) erwähnt, als eigene Theatertexte wurden zuletzt „Alle sechzehn Jahre im Sommer“ (Koblenz 2012), „Orest“ (2013, Residenztheater München) und „Kirschgarten – Die Rückkehr“ (2014, Hans Otto Theater Potsdam) uraufgeführt, sein neuesten Prosabände „Wassererzählungen“ und „Klassenbuch“ erschienen 2014 und 2017.
Niemand ist es gewesen –
Die „Odyssee“ und Wesenszüge des Menschlichen:
Lügen, Verstellung, Gewalt, Traumata
Es geht nicht um Moral. Es geht nicht darum, wer da wem Unrecht tut. Geschichte besteht daraus, dass Leuten Unrecht getan wird. Anders findet Geschichte nicht statt, hat sie nicht stattgefunden. Und die Frage ist nur, wie man sich dazu verhält, was man daraus für Konsequenzen zieht. Auf jeden Fall halte ich es für eine falsche Konsequenz, davor einfach die Augen zuzumachen. Unrecht ist aber ein falsches Wort. Es geht nicht um eine moralische Bewertung oder Betrachtung.
Heiner Müller
Theaterschrecken. Szenen der Gewalt gehören zum Grundstoff der Theaterkunst. Auf der Bühne wird öfter gestorben als geboren. Der Tod ist ein Dauergast, im Duell der Rivalen, beim Mord an Kindern und Königen, in den Schlachten, von deren Ausgang der Bote berichtet. Die Gewaltformen sind vielfältig. Die Skala reicht von der Demütigung über den Raub der Freiheit bis zur Schändung, Vergewaltigung und Vernichtung. Erfinden muss ein Autor in der Regel nichts. Die Geschichte der menschlichen Gattung bietet ein so reichhaltiges Repertoire an Untaten, dass die ästhetische Imagination stets hinter der Realität zurückbleibt.
Zuschauer reagieren auf Zerstörungen meist zwiespältig. Das Theaterpublikum hat dem Betrachter von Kriminalfilmen, Wirtshausprügeleien, Straßenschlachten oder Gladiatorenkämpfen nichts voraus. Gewalt stößt ab, erregt Ekel, löst Angst, ja Entsetzen aus; aber sie verlockt und ergötzt zugleich. Wie alle tieferen Erfahrungen des Lebens ist die Faszination der Gewalt zuletzt körperlicher Art. Sie führt dem Menschen seine Verletzbarkeit vor Augen. Plötzlich ist der Tod hautnah gegenwärtig. Die Schreie, das Blut, die Grimasse des Schmerzes – das ist der sichtbare Tod. Der Schock schlägt in die Magengrube, ein Augenblick der Übelkeit, des Schwindels vielleicht, dann ein paar tiefe Atemzüge, bis Erleichterung die Angst glättet. Was immer geschieht, der Zuschauer weiß sich in Sicherheit. Der Schmerz, den er wahrnimmt, ist nicht sein eigener Schmerz. So genießt er die Seelenkraft, die in ihm aufsteigt, den Mut, dem Furchtbaren zu trotzen. Er richtet sich auf, erhebt sich über das Geschehen, spürt einen Anflug von Erhabenheit. Er hat dem Tod ins Gesicht gesehen – und ist ihm entronnen.
Von der Erfahrung realer Gewalt trennt den Theaterbesucher der Rahmen der Aufführung. Er ist weder Augen- noch Ohrenzeuge. Was er zu sehen oder zu hören bekommt, ist nichts als ein Spiel. Das Blut ist nicht echt, die Waffen sind stumpf. Die Inszenierung mag noch so lautstark und grässlich sein, der Schmerz ist nicht wirklich. Die Verletzungen der Seelen und Körper sind nur lange geprobte Spektakel. Man mag Blut und Wunden sehen, doch der rote Saft ist nicht warm und aus den Körpern fließt kein Blut. Theatergewalt ist vollkommen ungefährlich. Die Bühne transformiert den Schrecken in Kosmetik und Maskerade. Vermutlich rührt daher jene ungerührte, ja spielerische Gelassenheit, die aufgeklärte Besucher an den Tag legen. Sie ertragen auch einen leichten Anflug von Abscheu. Aus sicherer Entfernung genießen sie Ekel und Thrill. Auch Angstlust ist eine Lust. Zwischen Neugier und Nervenkitzel, Erschrecken und Bedauern springt die Seele hin und her. In der Selbstüberwindung erlebt der Besucher unangefochtene Lebendigkeit. Kein Schauspiel verfolgen Menschen mit solchem Eifer wie das Unglück anderer. Der Anblick fremden Leidens tut ihnen wohl. Er stärkt die Lebensgeister.
Das Theater ist kein Ort der Magie. Die Gesetze der Ähnlichkeit gelten hier ebenso wenig wie andernorts. Ähnliches bewirkt weder Ähnliches noch dessen Gegenteil. Spielgewalt im Theater verdirbt weder die Sitten noch verbessert es sie. Sie verwandelt weder tugendsame Menschen in Bösewichte noch Sünder in Heilige. So drastisch die Darstellung des Unheils, der Betrachter denkt gar nicht daran, sich selbst zu verwandeln. Die populäre Entrüstung über handgreifliche Rollenspiele wird von der törichten Furcht gespeist, der vorgeführte Schrecken befriedige niedere Schaugelüste und verderbe das gutartige Menschenwesen. Besorgt fordert der Philister den ästhetischen Exorzismus, die Zensur des Geschmacks. Als bedürfte es für die Verderbnis der Artgenossen noch einer Verführung durch die Künste. Und als änderten betuliche Theaterkünste irgendetwas an den misslichen Neigungen der Spezies.
Die Entrüstung steigt, wenn sich Ängstlichkeit mit Selbstgerechtigkeit paart. Manche Menschen halten sich für etwas Besseres; sie predigen höhere Werte, hoffen auf die moralische Vervollkommnung und verachten hautnahe Tatsachen. Von den Leiden und Leidenschaften wollen sie sich ihr Gemüt keinesfalls einschwärzen lassen. Wütend reagieren sie auf deftige Zumutungen, die ihre zarten Seelen verwirren und sie mit verleugneten Neigungen konfrontieren. Erlaubt sei allenfalls eine verhaltene Anregung, die das Wohlbefinden nicht weiter stört. Voll trostvoller oder erhabener Gefühle möchten sie den Abend beschließen.
Nicht weniger abwegig ist umgekehrt die Idee der inneren Reinigung. Auch sie stützt sich auf magisches Denken. Wie ein heilsamer Schock, so heißt es, wirke das Furchtbare, wie eine Mahnung zur Umkehr. Das Programm der Umerziehung des Menschengeschlechts spekuliert auf die heilende Kraft des Entsetzens. Schreck und Angst sollen den Besucher läutern, sein Mitleid erregen, sein Leben ändern. So wird der Spaß am Spiel einer volkspädagogischen Mission unterworfen und die Ästhetik zum Vehikel der Moral herabgewürdigt. Aber weshalb soll die Theaterkunst aufrütteln, belehren, zur Sittsamkeit erziehen, ja, der Weltgeschichte den rechten Weg weisen? Anstalten haben noch selten jemanden gebessert.
Verharrt der Zuschauer in unbelehrter Gelassenheit, radikalisieren sich mitunter die Absichten. Einer Ästhetik der Grausamkeit kann es gar nicht blutig genug zugehen. Je krasser die Darstellung, so der Plan, desto nachhaltiger der Eindruck; je blutrünstiger die Aufführung, desto einschneidender die Wirkung. Das ohrenbetäubende Geschrei, die Pracht spritzenden Kunstblutes, derartige Horrorspiele zielen auf direkten Effekt. Ergreifend soll die Aufführung sein und den Besucher aus seinem dumpfen Alltag reißen. Der Zustand der Welt soll gebrandmarkt, die Seele besetzt, der Geist eingefangen werden. Man begnügt sich nicht mit Provokation, man will Überwältigung. Der Abstand zwischen Darstellung und Vorstellung, zwischen Ereignis und Erlebnis, zwischen Affekt und Phantasie soll getilgt werden. Darstellung soll durch Ausdruck, die Wortkunst durch Gestik ersetzt werden. In Mark und Bein soll der Zuschauer getroffen werden – ein ebenso anmaßendes, tyrannisches wie sinnloses Ansinnen. Regelmäßig verfehlen die groben Mittel die angestrebte Wirkung. Im Parkett bleibt der Betrachter der widrigen Wirklichkeit entrückt. Geduldig goutiert er den vorgeführten Schrecken. Nichts lässt ihn erbeben. Die Rhetorik des Entsetzens, die im Foyer mitunter zu hören ist, hat mit dem Widerfahrnis wirklichen Entsetzens nichts gemein. Man will sich einander nur seiner moralischen Empfindsamkeit versichern. Nicht Herzensträgheit ist für diesen Gleichmut verantwortlich, sondern die Distanzsperre, welche das Theater von der Realität trennt. Theater ist eine Sinnprovinz eigener Art. Auch im Unglück gilt: Das Theater ist nicht die Welt, und die Welt ist kein Theater. Die Gefahr beginnt erst, sobald der Vorhang gefallen ist.
Wolfgang Sofsky, Vorwort für das Spielzeitheft des Landestheaters Detmold 2014/2015.
Individuum zwischen Mythos und Aufklärung
Der „Odyssee“ Bedeutung ist transepochal und transkulturell. Sie ist pananthropisch. Odysseus ist zum ewigen Symbol des abendländischen Menschen geworden. Denker aus uralten, mittelalten und neuen Zeiten legen Zeugnis ab davon.
So etwa der Dichter Horaz, der uns (…) ins Stammbuch schrieb: „Wieder einmal hab den Dichter des trojanischen Krieges, Homer, ich gelesen … Was schön ist, was schimpflich, was nützlich dem Menschen, was schädlich kündet er klarer und besser noch als ein Chrysippus und Krantor. Hör, wie zu dieser Ansicht ich kam, wenn nichts anderes dich abhält! … Was Tugend und Weisheit zu leisten vermögen, zeigt uns Homer am leuchtenden Vorbild des Helden Odysseus, welcher Troja besiegte, mit Umsicht die Städte und Sitten zahlreicher Menschen erforschte und vielerlei Unbill auf weitem Meere erduldete, da er um seine und seiner Gefährten Heimkehr bemüht war, von keiner Woge des Unglücks bezwingbar. Sang der Sirenen, die Zaubergetränke der Kirke – du kennst sie; hätt er davon, gleich den Freunden, töricht und gierig getrunken, war er im Joch dieser Buhlin der Schande und Dummheit verfallen, hätte gelebt als ein räudiger Hund, als ein Schwein in der Suhle.“ (Horaz, Episteln) Oder wie Dante, der größte Dichter der mittelalten Zeiten, Odysseus die orientierungsträchtigen Worte sagen lässt: „Ward alles aufgezehrt in meiner Brust vom heißen Drang, durch alle Länder hin, der Menschen Wert und Narrheit zu erfahren … Bedenkt, wes hohen Samens Kind ihr seid und nicht gemacht, um wie das Vieh zu leben! Erkenntnis suchet auf und Tüchtigkeit.“ (Odysseus Rede in Dantes „Göttliche Komödie“) Oder auch wie Max Horkheimer und Theodor Adorno, zwei Philosophen der neuesten Zeit, zwei der unzähligen Repräsentanten einer erlesenen odysseischen Priesterschaft, die unermüdlich die hellen Stimmen der Vergangenheit fortsetzen und sekundieren: „Kein Werk legt von der Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos beredteres Zeugnis ab als das homerische, der Grundtext der europäischen Zivilisation…
Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen. Er überlässt sich ihnen immer wieder aufs Neue, probiert es als unbelehrbar Lernender, ja zuweilen als töricht Neugieriger, wie ein Mime unersättlich seine Rollen ausprobiert. ,Wo aber Gefahr ist, wachst / Das Rettende auch’1: das Wissen, in dem seine Identität besteht und das ihm zu überleben ermöglicht, hat seine Substanz an der Erfahrung des Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden, und der wissend Überlebende ist zugleich der, welcher der Todesdrohung am verwegensten sich überlässt, an der er zum Leben hart und stark wird. Das ist das Geheimnis im Prozess zwischen Epos und Mythos: das Selbst macht nicht den starren Gegensatz zum Abenteuer aus, sondern formt in seiner Starrheit sich erst durch diesen Gegensatz, Einheit bloß in der Mannigfaltigkeit dessen, was jene Einheit verneint. Odysseus wirft sich weg gleichsam, um sich zu gewinnen; die Entfremdung von der Natur, die er leistet, vollzieht sich in der Preisgabe an die Natur, mit der er in jedem Abenteuer sich misst, und ironisch triumphiert die Unerbittliche, der er befiehlt, in dem er als Unerbittlicher nach Hause kommt, als Richter und Rächer der Erbe der Gewalten, denen er entrann … … Der Held der Abenteuer erweist sich als Urbild des bürgerlichen Individuums …“
(Max Horkheimer und Theodor Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente)
Andreas Marneros, Homers Odyssee psychologisch erzählt, Wiesbaden 2017.
Die „Dialektik der Aufklärung“ erschien 1969 in Deutschland, die beiden Vertreter der Kritischen Theorie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten das Buch unter dem Originaltitel „Eclipse of Reason“ (Verfinsterung der Vernunft) verlegt.
Die beiden Titel zeigen an, dass mit der Vernunft etwas passiert sein muss. Zumindest nach Auffassung der beiden Autoren. Mit dem Triumph der Aufklärung habe sich die Welt verfinstert. Die modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen seien universal geworden, und der Einzelne werde den Herrschaftstechniken der modernen Massengesellschaft unterworfen. „Damit schlägt Aufklärung in Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wusste. Denn Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt. In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt und das bloße Dasein als der Sinn ausgesprochen, den es versperrt.“ Horkheimer und Adorno sehen in den bisherigen marxistischen Theorien nicht mehr die geeigneten Mittel, die moderne Krise zu begreifen. Sie versuchen darum tiefer anzusetzen, mit Vernunft- und Wissenschafts-, mit Herrschafts- und Zivilisationskritik.
Die Aufklärung sei gescheitert, weil in ihrer instrumentellen Vernunft schon Herrschaft über Menschen und Naturbeherrschung angelegt seien. Damit schlägt die Vernunft, die vom Mythos befreien wollte, selbst in den Mythos des bloß Bestehenden zurück. Das gilt besonders auch für die Kulturindustrie, die als Massenbetrug im Zeichen der Aufklärung entlarvt wird. Im ersten Satz des Buches wird gesagt, was unter Aufklärung zu verstehen ist: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie sollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ Die Idee der Entzauberung der Welt war nicht neu. Bereits in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard hatte Adorno geschrieben, dass die bürgerliche Gesellschaft aufklärerische Rationalität freisetzt, aber doch gleichzeitig ökonomisch dazu verurteilt ist, den durch fortschreitende Vernunft erhofften humanen Fortschritt zu hemmen und letztlich alles so zu lassen, wie es ist.(…)
Die „Dialektik der Aufklärung“ ist getragen von einem tiefen Pessimismus – bereits der junge Horkheimer war stark von Schopenhauer beeinflusst und schrieb schon, dass ja doch alles beim alten bleibe -, ein Pessimismus, der aus der abendländischen Kultur eine negative Universalgeschichte macht, deren grundlegendes Motiv ist, in jedem Detail der Geschichte eine faschistische Struktur auszumachen. (…)
Mit dem Kapitel „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ versuchen die Autoren, in die Vorgeschichte der Zivilisation zu gelangen und bereits hier den Hebel zur Vernunftkritik anzusetzen, einer Vernunft, die ganz marxistisch immer auch mit dem Klassenbewusstsein in Verbindung gesehen wird. Odysseus wollte dem Gesang der Sirenen lauschen, ließ sich an den Mast seines Schiffes binden und den Matrosen Wachs in die Ohren stopfen. Das lesen Adorno und Horkheimer als Zeichen des emanzipierten Bürgertums. Auf dem Rücken der Arbeiter wird Kunstgenuss möglich. Auch die Selbstbehauptung durch Selbstverleugnung, die Odysseus gegenüber der vorzivilisatorischen Macht des Zyklopen Polyphem geltend macht, indem er sich als „Niemand“ bezeichnet, wird ebenso dem neuzeitlichen Subjekt zugerechnet, das im Zwiespalt zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung lebt. „Furchtbares“, so heißt es, „hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.“ (…)
Alexander Riebel, Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung – Entzauberte Welt, in: Zenit, 23. Januar 2009.
Diesen Zusammenhang macht Adorno am Beispiel von Odysseus deutlich, der für ihn das „Urbild des bürgerlichen Individuums“ darstellt. Am Individuum zeigt sich der Doppelcharakter der Aufklärung und ihre Fundierung in Herrschaftsstrukturen besonders deutlich: Zwar leistet sie eine Befreiung des Individuums von der Bedrohung durch die Natur, gleichzeitig stellt sie aber eine neue Form von Herrschaft dar, nämlich die des Individuums über sich selbst und über andere Individuen. Herrschaft über die Natur ist so nur unter der Bedingung der Herrschaft über sich selbst und über andere möglich. Adorno fasst diesen Zusammenhang als eine „Dialektik von Selbsterhaltung und Selbstverleugnung“, d.h. dass sich das Individuum wegwerfen muss, um sich zu gewinnen. Diese Struktur wird in der „Dialektik der Aufklärung“ anhand der Abenteuer des Odysseus verdeutlicht. Das Mittel, das Odysseus benutzt, um sich selbst zu erhalten, ist laut Adorno die List, die er als Rationalisierung mythischer Opferhandlungen auffasst. Schon das Opfer enthält seiner Meinung nach ein Moment des Betrugs, da im Opfer menschliche Zwecke den Primat über die göttlichen Zwecke erhalten. Das Opfer ist so der Prototyp des Tauschhandels, es ist als Gegenleistung für göttliche Güte oder als Angebot intendiert, das den Gott veranlassen soll, den menschlichen Zwecken gemäß zu handeln.
In der List, die Odysseus anwendet, tritt dieses Moment des Betruges deutlicher hervor, da Odysseus die durch göttliche Wesen symbolisierten Naturgewalten übervorteilt, d.h. er hält sich an die Spielregeln, welche die ihm überlegenen Wesen vorgeben, findet aber durch seine Distanz zur mythischen Befangenheit immer eine Möglichkeit, sich der Macht der Wesen zu entziehen, indem er ihnen die Macht entgegensetzt, die er durch seine Selbstbeherrschung gewonnen hat. Die List des Odysseus soll hier anhand von zwei Beispielen deutlich gemacht werden, an denen die Struktur der Selbsterhaltung durch Selbstverleugnung am besten deutlich wird. Das erste Beispiel ist die Überlistung des Kyklopen Polyphem. Der Kyklop repräsentiert Adorno zufolge ein Wesen, das Odysseus physisch weit überlegen ist, dessen Denken aber nicht durch eine feste Identität charakterisiert ist. Der Kyklop ist ein Wesen aus einer Zeit, in der Subjekt und Objekt noch nicht getrennt sind, er besitzt kein Selbst, das der Natur entgegengesetzt wäre.
Diesen Charakter des Kyklopen macht sich Odysseus nun zunutze: Auf die Frage des Kyklopen, wer er sei, antwortet er mit „Udeis“, was im Griechischen sowohl der Name „Odysseus“ als auch das Wort für „niemand“ ist.
Odysseus benutzt also die Identität seines Namens mit dem Wort, dessen Bedeutung „niemand“ ist, um den Kyklopen zu täuschen. Die Täuschung gelingt, weil der Kyklop, der die Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht kennt, demzufolge auch keine Unterscheidung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung machen kann, d.h. er kommt nicht auf den Gedanken, dass ein Wort von dem Gegenstand, den es bezeichnet, getrennt werden kann. Ein mit „Niemand“ bezeichneter Gegenstand ist für ihn demzufolge nichtexistent und so entkommt Odysseus. Was sich Odysseus hier zunutze macht, ist die aufgeklärte Einsicht, dass Worte von ihrer Bedeutung abtrennbar sind, d.h. das Auseinanderfallen von Wort und Sache, Bezeichnendem und Bezeichnetem. Er versteht das Wort bereits in gut aufgeklärter Manier als abstraktes Zeichen und nicht als etwas immanent mit dem durch ihn Bezeichneten Verbundenes. Adorno legt der Überlistung des Kyklopen durch Odysseus aber noch eine sehr viel weitreichendere Interpretation zugrunde: Er fasst Odysseus’ List als ein Paradebeispiel der Selbsterhaltung durch Selbstverleugnung auf. Indem Odysseus seinen Namen nennt, wohl wissend, dass die Bedeutung des Namens gegen die Wortbedeutung von „niemand“ austauschbar ist und dass der Kyklop das Konzept des Eigennamens eines Subjektes nicht kennt, opfert er seine Identität seiner Erhaltung. Nur durch die Verleugnung seiner selbst als eines Subjekts kann er dem Kyklopen entkommen und sich selbst als Individuum erhalten. „Odysseus entdeckt an den Worten, was in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft Formalismus heißt: ihre perennierende Verbindlichkeit wird damit bezahlt, dass sie sich vom je erfüllenden Inhalt distanzieren, im Abstand auf allen möglichen Inhalt sich beziehen, auf Niemand wie auf Odysseus selbst. Aus dem Formalismus der mythischen Namen und Satzungen, die gleichgültig wie Natur über Menschen und Geschichte gebieten wollen, tritt der Nominalismus hervor, der Prototyp bürgerlichen Denkens. (…) [Odysseus] bekennt sich zu sich selbst, indem er sich als niemand verleugnet, er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht. Solche Anpassung ans Tote durch die Sprache enthält das Schema der modernen Mathematik.“ In der Erzählung von der Überwindung des Kyklopen sieht Adorno so schon das Verhängnis der modernen Gesellschaft vorgezeichnet: Erhalten kann sich nur der, der seine Individualität, seine Subjektivität aufopfert, indem er sich einem abstrakten Allgemeinen gleich macht. Erhaltung der individuellen Existenz wird so erkauft um den Preis der individuellen Subjektivität, die Objektivierung des Selbst ist die Bedingung seiner Erhaltung. Gegenüber dieser Interpretation der Überlistung des Kyklopen könnte man nun zunächst skeptisch sein, da sie von der zufälligen Gleichbedeutung des Namens „Odysseus“ und des griechischen Wortes für „niemand“ abhängt, die Adornos These der Notwendigkeit der Selbstverleugnung für die Selbsterhaltung stützt. Bedenkt man allerdings, dass Odysseus sich ohne diese „zufällige“ Gleichbedeutung nicht hätte retten können, da sein einziger Ausweg dann eine platte Lüge gewesen wäre, indem er sich „Niemand“ genannt hätte, ohne dass sein Name dem Wort für „niemand“ gleich gewesen wäre, wird deutlich, dass eine derartige Kritik an Adornos Interpretation einen noch stärkeren Nominalismus voraussetzt, als den, den sich Odysseus zunutze macht. Eine derartige Kritik verrät schon das endgültig aufgeklärte Bewusstsein, das dem Gesetz des Mythos nicht mehr unterworfen ist und sich demzufolge schon souverän selbst verleugnen kann, ohne um die eigene Identität fürchten zu müssen, da sie ohnehin nicht mehr vorhanden ist. Das zweite Beispiel, das hier eine Diskussion verdient, ist die Überlistung der Sirenen, da an diesem Beispiel die zentralen Themen, die Beherrschung der Natur durch die Beherrschung seiner selbst und die Verflechtung von Arbeitsteilung und Herrschaft deutlich werden. Odysseus überlistet die Sirenen, indem er eine doppelte Strategie anwendet: Seinen Gefährten verstopft er die Ohren, damit sie den Gesang der Sirenen nicht hören und lässt sie rudern, während er sich selbst am Mast festbinden lässt, ohne sich die Ohren zu verstopfen, so dass er den Gesängen der Sirenen lauschen kann, ohne Gefahr zu laufen, sich in diesen Gesängen zu verlieren. Adorno interpretiert diese Erzählung als das Paradebeispiel von Herrschaftsstrukturen, in denen alle Beteiligten Beherrschte bleiben: Odysseus entrinnt den Sirenen nur durch die doppelte Ausübung von Herrschaft: er lässt seine Gefährten mit verstopften Ohren rudern, nutzt also als Herrscher ihre Arbeitskraft, um an den Sirenen vorbeizukommen, und er übt Herrschaft über sich selbst aus, indem er sich an den Mast binden lässt, da er weiß, dass er den Gesängen ohne die Fesselung, d.h. ohne die vorausschauende Herrschaft über sich selbst, niemals entrinnen könnte. Ohne die Herrschaft über seine Gefährten und ohne die Herrschaft über sich selbst wäre also die Erhaltung seiner selbst als eines identischen Individuums nicht möglich. An den beiden Beispielen wird das grundlegende Problem deutlich: Die Subjektwerdung des Menschen scheint nicht ohne die Ausübung von Herrschaft über sich selbst und über andere möglich zu sein, d.h. das Entstehen menschlicher Individualität scheint Herrschaftsstrukturen vorauszusetzen. Trotz seiner Kritik an diesem Charakter aufklärerischen Denkens in bezug auf das Individuum ist Adorno allerdings nicht der Meinung, dass dieser Prozess vermeidbar ist. Er versteht Odysseus Verhalten vielmehr als eine notwendige Entwicklungsstufe der Menschheit zwischen Mythos und Aufklärung: „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: Die Geschichte der Entsagung. […] [E]s ist die gesellschaftliche Not, dass der, welcher dem universalen, ungerechten und ungleichen Tausch sich entziehen, nicht entsagen, sogleich das ungeschmälerte Ganze ergreifen würde, eben damit alles verlöre, noch den kargen Rest, den Selbsterhaltung ihm gewährt. Es bedarf all der überflüssigen Opfer: gegen das Opfer. Auch Odysseus ist eins, das Selbst, das immerzu sich bezwingt und darüber das Leben versäumt, das er rettet und bloß noch als Irrfahrt erinnert. Dennoch ist er zugleich Opfer für die Abschaffung des Opfers. Seine herrschaftliche Entsagung, als Kampf mit dem Mythos ist stellvertretend für eine Gesellschaft, die der Entsagung nicht mehr bedarf: die ihrer selbst mächtig wird, nicht um sich und anderen Gewalt anzutun, sondern zur Versöhnung.“ Das Ideal aufklärerischen Denkens, eine Gesellschaft freier Menschen, ist also eines, das auch Adorno vorschwebt, nur verliert die aufgeklärte Gesellschaft es seiner Ansicht nach durch ihre Verhaftung in Herrschaftsstrukturen und dem aus diesen resultierenden Selbsterhaltungszwang aus den Augen.
Birte Schelling, Das Individuum in Mythos, Aufklärung und
Kulturindustrie – ein einführender Essay zur „Dialektik der Aufklärung“,
Muse, erzähle mir vom Manne, dem wandlungsreichen – Homer und seine Dichtung
In Homers Heldengesängen vom Kampf um Troja scheinen alle Motive und Triebkräfte der Menschheitsdichtung beispielhaft vorgebildet zu sein: Kampf und Abenteuer, Sieg und Untergang, Liebe und Hass, Heroentum und Niedrigkeit, Mythos und historische Wirklichkeit. (…) Die Abenteuerhandlung dieser Irrfahrten (…) ist es schließlich, die sich mit spektakulären Bildern von Kampf, Schiffbruch und Rache tief ins kollektive Bewusstsein gegraben haben.
Steffen Richter, in: Der Tagespiegel, 14. Dezember 2007.
Einmal wird Goethes Werther als Bürgerlicher von einem noblen Gastmahl unter Adligen ausgeschlossen. Zur Selbstvergewisserung liest er in einem Buch „den herrlichen Gesang, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird. Das war alles gut.“ Das Buch, das wie so oft in seinen Händen liegt, ist Homers „Odyssee“. Nicht nur Werther liest darin. Das Epos ist ein prägender Text der europäischen Kulturgeschichte, der seine Magie auch nach Jahrtausenden nicht verloren hat. (…)
Inwiefern die „Odyssee“ ein besonders zentraler Text ist, wird gerade aus erzähltheoretischer Sicht deutlich. Wie selbstverständlich durchziehen Elemente der „Odyssee“ die europäische Literaturund Kulturproduktion, oftmals ungenannt oder gar unerkannt. Vorstellungen von Helden, die Irrfahrten und Prüfungen zu bestehen haben, um nach Hause zu gelangen, sind das Grundmuster unzähliger Romane, Spielfilme – und Biografien. Der Urtext aber, die „Odyssee“, thematisiert das Erzählen selbst und greift ihrer eigenen Wiederund-Wieder-Erzählbarkeit damit gewissermaßen vor. (…) „Die Odyssee“, so [der Philologe] Jonas Grethlein, „erzählt über das Erzählen“.
Hans Christian Riechers, in: Der Tagesspiegel, 12. Januar 2018.
Odysseus ist zu sehr Mensch (fast möchte man sagen, des zwanzigsten Jahrhunderts: man sehe doch James Joyce!), als daß man an der Erzählung seines Schicksals vorbeigehen könnte. (…) Es herrscht ein moderner Sinn in diesem Dichtwerk, das ist unverkennbar, und es werden – am konkreten Beispiel – allgemein-menschliche Probleme abgehandelt (…): Vier Frauen bestimmen das Leben des Odysseus: Seine Gattin Penelope, die sprichwörtlich treue, die zwanzig Jahre auf seine Rückkehr wartet; Kirke, die Zauberin, die ihn wie alle anderen zu „becircen“ versucht, deren wilden Sinn er durch (…) Charme überwindet: ohne Klagen lässt sie ihn nach einem Jahr ziehen;
Kalypso, die Nymphe, die leidenschaftlich Liebende, die ihn acht Jahre auf ihrer Insel zurückhält, ihn unsterblich machen möchte, ihn letztlich aber, beeindruckt von seiner Sehnsucht nach einer alternden Sterblichen, freigibt; und schließlich Nausikaa, die den Schiffbrüchigen auf der Insel der Phaiaken aufnimmt, ein sehr junges, zurückhaltend liebendes Mädchen, deren Zuneigung zu dem um vieles älteren Mann aufrichtig und doch von allem Anfang an aussichtslos ist. Für den Dichter erfüllt die Phaiaken-Insel noch eine weitere, eminent wichtige Funktion: Hier findet nach den mühseligen Irrfahrten de facto der Eintritt des Helden in die reale Welt statt, und hier, im Kreise der Königsfamilie, erzählt Odysseus von seinen unglaublichen Abenteuern: Von der Überlistung des einäugigen Polyphem, der Verwandlung seiner Freunde in Schweine durch Kirke, der Fahrt in die Unterwelt, wo er seiner verstorbenen Mutter begegnete und ihm der Seher Teiresias sein weiteres Schicksal vorhersagte, von dem Verlust der Gefährten durch die Ungeheuer Skylla und Charybdis und dem Frevel seiner letzten Begleiter gegenüber Helios, der sie das Leben kostete. Der wechselvolle, durch Vor- und Rückgriffe gekennzeichnete Charakter der ersten Hälfte der Odyssee ändert sich schlagartig mit der Ankunft des Helden in seiner Heimat. Stetig, in natürlicher zeitlicher Abfolge bewegt sich die Handlung jetzt über verschiedene Stationen auf den Höhepunkt zu: den Freiermord, die grausame Bestrafung der Frevler und die Wiedereinsetzung des Heimgekehrten in seine Rechte (…).
Herbert Bannert, in: Die Zeit, 3. August 1979.