Schauspiel von Jens Roselt
Besetzung
Inszenierung: Jessica Cremer
Bühnenbild: Matthias Appelfelder
Kostüme: Tatiana Tarwitz
Klänge und Sounddesign: Hans Kämmerer
Dramaturgie: Dr. Christian Katzschmann
F Marie Luisa Kerkhoff M1 Stephan Clemens M2 Markus Hottgenroth
Premiere: Samstag, 17. März 2018, 19.30 Uhr, Grabbe-Haus
Vorstellungen: Sa, 17.3./ Sa, 24.3./ Mi, 28.3./ Do, 29.3./ Sa, 7.4./ So, 8.4./ Do, 12.4./ Fr, 27.4./ So, 13.5./ Fr, 18.5.2018
Fotonachweis: Landestheater Detmold/Kerstin Schomburg
Inhalt
„Postkoitusgeschwafel“ mit radikalen Konsequenzen
„Stellen Sie sich zwei Situationen vor: In der ersten kommen Sie nach Hause und treffen Ihren Partner nackt und beim leidenschaftlichen Sex“ mit einem Anderen an. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie versuchen würden, den Eindringling zu töten? Und jetzt malen Sie sich das Gegenszenario aus: Jemand ertappt Sie dabei, wie Sie es mit seinem oder ihrem Partner treiben. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der oder die Betrogene Sie vor Wut umzubringen versucht?“, fragt der amerikanische Psychologe David Buss uns in seiner Studie „Der Mörder in uns“. Immerhin die Hälfte aller Befragten konnte sich 2008 in einer Umfrage des Meinungsforschungs-Instituts forsa vorstellen, in einer entsprechenden Situation selbst zum Mörder zu werden, sei es aus Eifersucht (unter Frauen der angegebene Hauptgrund) oder Rachegelüsten (die entscheidende Emotion der männlichen Umfrageteilnehmer). Diese genannten Intentionen sind ziemlich realitätsnah, denn rund ein Viertel aller Morde sind durch Eifersucht motiviert, ein Gefühl, das geschlechterübergreifend und über alle Bildungs- und Einkommensschichten hinweg offenkundig wirksam und schwer zu schwer kontrollieren ist.
Jemanden umzubringen, der einem den Partner ausspannt, das ist zwar nicht die Regel. Die Wahrscheinlichkeitsspekulation über die Folgen, wäre ich in meinem eigenen Leben mit einem solchen Vertrauensbruch konfrontiert, stellt hingegen eine (nicht nur in den Künsten) beliebte Übung dar, zumal heikle Dreiecksbeziehungen auch im ‚richtigen‘ Leben jenseits der Bühne nicht allzu selten vorkommen.
Jens Roselt wählt in „Dreier“ die gewissermaßen klassische Form einer solchen Dreieckskonstellation: Frau (Fernsehjournalistin) betrügt ihren Mann (Staatsanwalt) mit dessen bestem Freund (Augenarzt). Während die einen sich nach dem Ehebruch noch so genanntem „Postkoitusgeschwafel“ hingeben und sich mit ihrer illusionslos sarkastischen Sicht auf ihr eigenes tristes Mittelschichtdasein nichts schenken, klingelt der betrogene Ehemann an der Appartement-Tür des Freundes. Und nun? Den Betrug zugeben oder unter denkbar schwierigen Umständen das Geschehene verbergen? Was folgt: Drama, Tragikomödie oder Schwank? Kurzentschlossen verbirgt sich die Frau unter dem Bett, während ihr Gespiele den Ehemann hereinbittet: Kann das Ehescharmützel mit diesem Lustspieltrick vermieden werden? Vielleicht ist das aber gar nicht nötig oder möglich, da der Betrogene ohnehin schon im Bilde ist und das Arrangement der Entdeckung ein vorher geplantes war? Mit einem hohen Maß an Raffinesse entspinnt sich eine heikle ‚Dreier‘-Konversation, ein Lavieren zwischen der Option, die gegenseitige Täuschung aufrechtzuerhalten und eine Bloßstellung zu vermeiden, und dem Impuls, die Wahrheit offen auszusprechen. Da alle als reflektierte Zeitgenossen mit ihren Gefühle ohnehin hadern und ihr Ich mit Zynismus maskieren, werden die Zweifel, was spielerisches Kalkül und was tatsächlich ernsthaftes Empfinden in der Affäre, der Freundschaft und in der Ehe, was Lug und Trug und was gefühlsecht war im Zusammensein, in den doppelbödigen Aussprachen untereinander und mit sich allein nicht ausgeräumt, sondern vergrößert. In ihren subtilen verbalen Gefechten, in denen sich Frau und Mann oder Mann und Mann mit klingenscharfen Worten zusetzen, konkurrieren die Akteure jeweils um den Status, die wirkliche Bedeutung füreinander und für sich selbst, und ebenso um tatsächliche (oder vorgeschützte) Gefühlsregungen in ihrem sonst vermeintlich uninspirierten, emotionsarmen Leben. In Anbetracht der sorgsam errichteten Fassaden vor der jeweiligen Innenwelt wird nie wirklich klar, wer es ehrlich meint und wer ein abgefeimtes Spiel forciert – die verfahrene Lage in dieser Dreiecksbeziehung läuft schließlich auf eine radikale Lösung zu, doch auf welche? Ist das Ganze womöglich ein gemeinsam durchlebter Albtraum, der schlimmstmögliche irritierende Situationen zeitigt und die Träumenden in dieser David-Lynch-haften Diesseits- und Jenseitswelt gefangenhält in abstrus quälenden und lachhaften Verhaltensmustern, dubiosen Argumenten der Selbstfindung und -erklärung, schroffen Wortwechseln aufeinander zu und aneinander vorbei?
Christian Katzschmann
Deierkonflikt aus „niedrigen Beweggründen“ – 1: Neid
Alles, was bewundert werden könnte, was darauf hinweist, dass es in diesem Leben für uns auch noch „Wunder“ gibt, kann Neid auslösen. Alles irgendwie Hervorragende löst Neid aus. (…) Jeder Mensch ist neidisch, mit seltenen Ausnahmen. Der andere hat (unverdientermaßen) etwas, was ich nicht habe. Das, was ich habe, erscheint mir plötzlich als unendlich gering und unwichtig. Diese absurde Interpretation kann sich schließlich steigern bis zu einem „Ich habe nichts“ und er/sie hat alles. Und das bezieht sich keineswegs nur auf Dinge, sondern auch auf Beziehungen, auf das Aussehen, Fähigkeiten, Talente etc. Dieses Gefühl könnte man in Bezug auf äußere Dinge umschreiben mit einem: „ich komme immer zu kurz, immer zu spät, es ist nie genug da“ und in Bezug auf das eigene Selbst mit einem: „Ich will nicht ich sein; ich bin nicht richtig, lebe verkehrt, habe mich falsch entschieden usw.“ Dieses Grundgefühl wirkt wie ein Netz, in dem der Neider verfangen ist und in dem er sich immer weiter verstrickt. (…)
Der rachsüchtige Neider ist ein Mensch, der aus Neid heraus das Neiderregende entwertet und damit meistens auch den Menschen, der Neid erregt. Diese Entwertungen können auf vielfältige Weise erfolgen, wenn möglich dermaßen gekonnt, dass die Entwertung gar nicht so deutlich wird, der Neiderreger oder die Neiderregerin nur an seiner oder an ihrer plötzlich sich verschlechternden Stimmung spürt, dass etwas Entwertendes in der Luft liegt. Die Aggression erfolgt heimlich – wirkt daher unheimlich und führt bei der Neiderregerin, beim Neiderreger zu einer diffusen Angstspannung. Darin wird die heimliche Macht der aggressiven Neider und Neiderinnen sichtbar. (…) Das Sein und das Schaffen eines anderen Menschen bedroht ihren Selbstwert so sehr, dass sie nur noch entwerten und verleugnen können. (…) Eine andere Form der Stabilisierung des Selbstwerts verläuft über destruktive Phantasien, über Rachephantasien. Diese kreisen um die Ideen, was beneideten Menschen alles angetan werden könnte, damit sie in dem, worum sie beneidet werden, gehemmt werden. (…) „Daher ist sein einziger Wunsch, Rache an seinem Gegenstand zu nehmen. Hierbei nun aber befindet er sich in der unglücklichen Lage, dass alle seine Schläge machtlos fallen, sobald an den Tag kommt, dass sie von ihm ausgegangen sind. Daher also versteckt er sich so sorgsam wie die geheimen Wollustsünden, und wird nun ein unerschöpflicher Erfinder von Listen, Schlichen und Kniffen, sich zu verhüllen und zu maskieren, um ungesehn seinen Gegenstand zu verwunden.“ Was Schopenhauer hier geschrieben hat, trifft das Phänomen eines bestimmten Umgangs mit Neid recht präzis. Der Hass, der im Neid steckt, verlangt nach Rache. Diese wiederum darf aber nicht offensichtlich sein, sonst wäre ja der Neider oder die Neiderin entlarvt, und das wäre eine weitere Kränkung.
Verena Kast, Neid und Eifersucht – Die Herausforderung durch unangenehme Gefühle, München 1998.
Dreierkonflikt aus „niedrigen Beweggründen“ – 2: Eifersucht
Das Wörterbuch der philosophischen Begriffe definiert Eifersucht folgendermaßen: „Eifersucht ist die quälende bis zu leidenschaftlichem Hass sich steigernde Furcht, die Neigung einer geliebten Person oder den Besitz eines Wertes oder Gutes mit einem anderen teilen zu müssen oder zu verlieren.“ Interessant ist der Ausdruck „quälende Furcht“. Eifersucht wird hier also zunächst als Angst erfasst. Die Angst ist deutlich bestimmt: Es handelt sich insbesondere um die Angst vor Liebesverlust, aber auch vor Verlust überhaupt. Diese Angst oder auch Furcht kann sich zu leidenschaftlichem Hass steigern, oder anders ausgedrückt: Diese Furcht wird mit leidenschaftlichem Hass abgewehrt. Die involvierte Leidenschaft zeigt deutlich, welche Verzweiflung durch den drohenden Verlust ausgelöst wird. Denn es ist ja nicht nur Hass, der in der Eifersucht erlebt wird, es ist auch Liebe. (…)
Sind wir von Eifersucht erfasst, dann befürchten wir, dass ein anderer oder eine andere uns etwas wegnimmt, was uns anscheinend gehört, worauf wir ein Anrecht haben oder zu haben meinen. (…) Im Erleben der Eifersucht sind verschiedene Emotionen beteiligt: Da ist einmal der Schmerz, der körperlich meistens als Schmerz im Bauchraum, im Zwerchfell, im Oberbauch beschrieben wird. Der Schmerz trifft uns offensichtlich zentral, hervorgerufen durch das Gefühl, vernichtet zu werden. In ihm drückt sich das Problem des Verlassenwerdens und des Ausgestoßenwerdens aus. Das schmerzhafte Gefühl, verlassen oder ausgestoßen zu werden, real oder in der Phantasie, ist ein Aspekt der Eifersuchtsreaktion. Damit verbunden sind Angst und Wut. Aber auch Trauer, Gefühle der Ohnmacht und der Scham gehören zu dieser Reaktion und bewirken ein verunsichertes Selbstwertgefühl, den Selbstzweifel. (…)
Der Selbstzweifel ist evident: Wenn wir verlassen werden, wird uns suggeriert, dass wir nicht liebenswert sind, nicht attraktiv oder weniger attraktiv als… Diese ‚Erkenntnis’ nährt Gefühle der Wertlosigkeit, aus denen heraus dann eine Neidbereitschaft erwächst. (…)
Der Fremdzweifel äußert sich darin, dass wir uns fragen, ob unsere vorherige Sicht dieses Menschen richtig war. Denn wenn sie richtig war, ist eigentlich nicht zu verstehen, warum er oder sie uns das antut. Dieser Fremdzweifel äußert sich in einer Entwertung des Partners oder der Partnerin, noch häufiger allerdings des Dritten oder der Dritten.
Eine Form der Reaktion ist der Rückzug, der Rückzug in eine innerliche Abwesenheit (…). Wer sich nicht zurückzieht, wird eher angreifen, wird deutlich machen, dass er oder sie zurückhaben will, was ihm oder ihr gehört, denn da gibt es Wut auf den Eindringling. (…) In der Eifersucht wird einem unabweisbar klar, dass man einen Rivalen oder eine Rivalin hat. Das wissen wir zwar theoretisch, es gibt immer irgendwo auf der Welt einen Rivalen oder eine Rivalin in bezug auf alles, was für uns einen Wert darstellt und von dem wir denken, dass es einen Teil unserer Identität ausmacht, dass es zu uns gehört.
Man kann nun progressiv mit solchen Rivalen und Rivalinnen umgehen, falls man genug Selbstvertrauen hat. Man kann sich herausfordern lassen, sich entwickeln, sei es, dass man entwickelt, was der Rivale oder die Rivalin verkörpert (…), sei es, dass man die Beziehung zu sich selbst mehr aktiviert. Man kann in dieser Situation sich auch regressiv verhalten, gerät dann aber in eine destruktive Dynamik, die darin gipfeln kann, dass es dem Eifersüchtigen unabdingbar zu sein scheint, dass einer von beiden untergehen muss, verzichten muss, notfalls sterben muss. Das ist bittere Realität: Es vergeht kaum eine Woche, in der in der Zeitung nicht über einen Eifersuchtsmord berichtet wird oder über ein Eifersuchtsdrama mit Selbstmord. Das ist die tödliche Konsequenz einer destruktiven Dynamik. Es sind zu einem hohen Prozentsatz Männer, die aus Eifersuchtsgefühlen heraus morden.
Verena Kast, Neid und Eifersucht – Die Herausforderung durch unangenehme Gefühle, München 1998.
Dreierkonflikt aus „niedrigen Beweggründen“ – 3: Hass
Menschen, die hassen, suchen die Nähe ihres Hassobjekts, weil sie, wenn auch uneingestanden, von ihm fasziniert sind – sogar dann, wenn sie es vernichten wollen. Deshalb nützt es einem Hassobjekt auch nichts, wenn es sich bemüht, Menschen, die es hassen, aus dem Weg zu gehen. Solche Menschen setzen ihm nach, akzeptieren nicht, dass es sich entfernt. (…)
Menschen, die hassen, werden unvorsichtig. So zeigt sich, dass viele Hassverbrecher ohne Rücksicht auf die eigene Person handeln. (…) Generell gilt, dass Menschen, die hassen, von ihrem eigenen Hass in Mitleidenschaft gezogen werden. Indem sie ihrem Hassobjekt die Empathie verweigern, verändern sie sich – anfangs unmerklich – selbst. (…)
Menschen, die hassen, streben danach, ihr Hassobjekt zu unterwerfen. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, je nach Grad des Hasses und der faktischen Macht, über die sie verfügen. (…) Bei extremem Hass und ausreichender Macht betreiben sie die Vernichtung ihres Hassobjekts. Diese Vernichtung kann in einer radikalen Entwertung bestehen, die es zwar physisch am Leben lässt, ihm aber den „sozialen Tod“ zufügt oder „Seelenmord“ an ihm begeht. In letzter Konsequenz geben Menschen, die hassen, aber erst Ruhe, wenn sie ihr Hassobjekt auch physisch vernichtet haben und darin die Bestätigung finden, über Leben und Tod entscheiden zu können.(…)
Absoluter Hass ist außerordentlich, jenseits der herrschenden Ordnungsregeln. Hass wird absolut und beherrscht die Stimmung von Individuen oder Gemeinschaften, wenn man glaubt, alles hinter sich zu haben, alles verloren zu haben, und wenn man keinen positiven Ausweg mehr sieht, so dass man nichts zu verlieren hat und man durch den eigenen Tod nur noch gewinnen kann. (…) Wenn aller Sinn zerstört ist, scheint nur noch eines sinnvoll: zu hassen. Und in der mit dem Hass verbundenen Feindseligkeit stiftet sich negativ ein neuer Sinn, der auf einem totalen Nihilismus zu beruhen scheint. (…)
Echter Hass muss (…) weder primitiv noch vorzivilisatorisch, noch unbeherrscht und irrational sein, sondern er kann vielmehr sublim, beherrscht, edel, zivilisiert, berechnend, klug und vernünftig auftreten. Weil der Hass also zum Kalkül werden kann, ist er auch aufschiebbar und aufteilbar – jedes Moment dieser Stimmung wird zum richtigen Zeitpunkt am ihm entsprechenden Objekt realisiert. Die Aufführung des Gesamtkunstwerkes Hass wäre verdorben, wenn zum falschen Zeitpunkt die falschen Objekte vernichtet werden.
Der Hass wirkt als Stimulans zur Vervollkommnung des eigenen Könnens; man muss dies und das noch lernen, um es „den Anderen zeigen“ zu können, man muss das und das können, um „seine Hausaufgaben“ erledigen zu können. Hochrationaler Hass ist also ein Können, das gelernt werden muss. Insofern der Mensch durch dieses Können Macht über sich und über andere erfährt, ist es von dem Genuss der Lust getragen, den anderen leiden zu sehen, am anderen zu sehen, wie er die Selbstbeherrschung verliert, wie er in Panik gerät, wie er verzweifelt, wie er sich selbst in den Tod stürzt.
Dreierkonflikt aus „niedrigen Beweggründen“ – 4: Rache
Die Rache soll die erlittene Schande und Demütigung und die damit verbundenen Schmerzen wieder aufwiegen, ausgleichen. (…) Der Hass treibt uns zur Rache an; wir brauchen ihn, um unsre Würde wiederherzustellen. Rache hilft uns, unsere Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden. Rache ist eine Funktion des Hasses zur Wiedererlangung unserer Würde.
Zur nachhaltigen, kalten, wohl überlegten Rache unter dem Gesichtspunkt des Gerechten gehört aber die Fähigkeit, auf Rache zu verzichten – und zwar nicht nur zeitweilig, sondern eventuell überhaupt. Dieser Verzicht auf Rache ist nur möglich, wenn man erlittenes Unrecht, erlittene Boshaftigkeit vergibt. So fällt Rache paradoxerweise mit Vergeben zusammen. Wer dagegen dionysisch entgrenzt hasst, kann nicht vergessen und vergeben. Dieser rasende Hass ist gnadenlos, er kennt nicht die Gnade des Vergessens und die Gabe des Vergebens, er vermag nicht zu dulden, was er hasst. (…)
Nur der vermag so unendlich und absolut zu hassen, dessen Liebe zu etwas und Stolz auf etwas immer wieder und unendlich zerstört wurde. Wenn die Liebe, das Ehrgefühl, der Stolz, die Würde, die Hoffnungen des Einzelnen keine Erfüllung zu finden glauben, (…) dann wird aus (…) Neid Rache, aus Ärger und Wut Hass, und der Hass gerät schließlich zur alles dominierenden Stimmung.
Rolf Haubl/ Rolf Haubl/Volker Caysa, Hass und Gewaltbereitschaft, Göttingen 2007
Dreierkonflikt aus „niedrigen Beweggründen“ – 5: Skrupellosigkeit
Lüge hat zweifellos etwas mit Maskierung, Tarnung, Verstecken und Geheimhaltung zu tun. Getarnt werden Handlungen und Gesinnungen. Gelogen werden kann durch Taten, Worte, Gesten und durch Schweigen. Meist wird durch die Unwahrheit ein anderer in einen Nachteil versetzt. (…) Wer nicht zu den Gerissenen gehört (…), der hat oft nicht die Kraft zur (und das gute Gedächtnis für die) konsequente(n) Lüge. Denn jeder Lügner muss ständig die Lüge und die Wahrheit bedenken. (…) Lügner entscheiden über die Art und Weise, wie sie lügen: durch Verheimlichung, durch Fälschung oder durch die Kombination beider. Man kann dadurch lügen, dass man Informationen weglässt oder nur einen Teil der Wahrheit zugibt, so dass das Opfer von dem abgelenkt wird, was es zu verheimlichen gilt (Verheimlichungslüge). Man kann aber auch eine falsche Fährte legen, also falsche Informationen so präsentieren, als seien sie wahr {Fälschungslüge). Schließlich kann man auch die Wahrheit sagen, aber auf so falsche Weise (z. B. durch Übertreibung), dass die anderen im Unklaren bleiben oder das Gegenteil von dem annehmen, was gesagt wird. (…) Die Täuschungsabsicht zeigt, dass zur Lüge auch die prinzipielle Möglichkeit gehört, nicht zu lügen. Der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge muss bekannt sein. Das schließt den pathologischen Lügner aus unserer Betrachtung aus. Lüge setzt Wahrheitsfähigkeit) nämlich immer voraus. Denn aus der Sicht des Opfers ist Lüge nur möglich, weil es glaubt, dass Nicht-Lüge passiert.
Wer täuschen will, darf keine absolut neue Welt aufbauen, sondern muss sich an Vertrautes, an die Schemata des logischen Schließens (logische Normen), an bekannte Tatsachen eines Gebietes, halten. Er muß Wahres und Falsches miteinander verknüpfen.
Robert Hettlage, Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge, in: Mathias Mayer (Hrsg.), Kulturen der Lüge, Köln 2003.
Lügen Sie nach dem Ökonomie-Prinzip: so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Die beste Lüge ist eine, die nicht erzählt wird.
Lassen Sie sich nicht aus dem Konzept bringen, sollte Ihr Hauptpartner Ihnen plötzlich eine angebliche Verständnisbereitschaft vorspielen, nur um Ihnen Informationen zu entlocken. Auch wenn er Ihnen ‚Schuldfreiheit’ im Falle der Wahrheit in Aussicht stellt, bleiben Sie bei der Lüge, um Ihre Zweitbeziehung zu schützen.
Gelegentlich kann es sich empfehlen, an den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorbei zu lügen. Eine unglaubwürdige Geschichte kann umso glaubhafter sein, wenn Sie zu Ihrem Hauptpartner sagen: »Glaubst du im Ernst, ich würde etwas derart Unwahrscheinliches erfinden?!« Wenn Sie tatsächlich der Unwahrheit überführt werden sollten, stellen Sie es so hin, als ob Sie die mögliche Eifersucht Ihres Partners befürchtet und deshalb aus Selbstschutz etwas erfunden hätten (»Hätte ich dir gesagt, dass ich mit G. ins Kino gehe, wärst du ja nur wieder sofort eifersüchtig geworden.«).
Falls Sie nicht um eine Lüge herumkommen, notieren Sie sich am besten, was Sie erzählt haben, und versuchen Sie es sich einzuprägen.
Karin-Sarah Reichelt/Sarah Küsters, Wer hat Angst vor dem Seitensprung. Gebrauchsanleitung für erotische Abenteuer, Köln 2009
Aktuellen Umfragen zufolge ist den Deutschen einerseits die Treue zum Beziehungspartner das Wichtigste, rund die Hälfte der befragten Männer und Frauen gibt dennoch an, gelegentlich Reißaus genommen zu haben in Form eines erotischen Abenteuers. (…) Dabei ist Fremdgehen natürlich nicht gleich Fremdgehen. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man sich eine kleine Affäre als kurzfristigen Kick genehmigt oder ob man sich auf eine auf lange Sicht angelegte Zweitbeziehung einlässt. Kurzaffären und One-Night-Stands sind sicherlich leichter zu managen, solange man sich gefühlsmäßig nicht allzu stark hineinsteigert und die Geschichte jederzeit wieder aufgeben kann. Bei einer ‚richtigen’ simultan geführten Langfristbeziehung ist es schon schwieriger, emotional nicht in die Bredouille zu kommen, denn bei einer solchen Zweitpartnerschaft entstehen Bindung, Nähe und Vertrauen.
Wie kommt es zum Seitensprung? Die Ehe hat zwei Gesichter. Das eine ist das auf den Covern von Hochglanzillustrierten: ganz in Weiß und mit reichlich Romantik. Das andere heißt Beziehungsalltag und zeigt sich spätestens dann, wenn man nach den Flitterwochen die Schmutzwäsche in die Maschine räumt. Auch wenn es von nun an nicht immer gleich bergab geht, so ist es doch oft so, dass die Beziehung schleichend einem toten Punkt entgegenwandert. In der Regel ist dieser Punkt nach sechs Jahren erreicht – egal, ob Ehe oder Langzeitpartnerschaft ohne Trauschein. Man hat sich etabliert, das Haus ist gekauft (wenn auch noch nicht abbezahlt), die Kinder sind ‚aus dem Gröbsten raus’ (…). Und ab dann, so verraten es uns die Statistiken, wird auch die Sexualität getauscht gegen Dorade beim Italiener, ein teures Auto und Neuanschaffungen für das gemeinsame Heim. (…) Der gewisse Kick, auch beim Sex, hat sich schon längst verabschiedet.
Der Begriff Affäre leitet sich vom französischen ‚avoir á faire’ ab, was so viel heißt wie ‚zu tun haben’. Und dieses Wort trifft ebenso wie die Wörter Seitensprung und Fremdgehen sehr genau den Beweggrund für viele erotische Abenteuer: das Moment der Bewegung aus einer gewachsenen Starre heraus. Denn die Beziehung, die die Liebenden am Anfang in heftige sexuelle und emotionale Schwingungen versetzt, büßt nach und nach genau diese Lebendigkeit und Lebhaftigkeit ein.
Der Seitensprung ist daher selten die Ursache für eine Beziehungsstörung, sondern bestenfalls der Auslöser. Nur in wenigen Fällen ist es so, dass sich Menschen in glücklichen Beziehungen ohne Weiteres in eine dritte Person verlieben. In der Regel hakt es schon irgendwo innerhalb der Hauptpartnerschaft. Vielleicht währt sie schon (zu) lange und plätschert nur noch vor sich hin, vielleicht ist sie zwar noch jung, erfüllt aber nicht die in sie gesetzten Erwartungen.
Kann die Liebe nicht mehr ausgelebt werden, kann der eine den anderen emotional nicht mehr wirklich erreichen, dann dauert es meist nur bis zu dem gewissen Augenblick, bis zum richtigen Klick im Chat, bis zum erotischen Reiz, der stark genug ist, um eine ausreichende Bereitschaft zu empfinden, fremdzugehen. In einem solchen Moment gibt es oft kein Halten mehr.
Ein Motiv zum Seitensprung ist das Bedürfnis nach mehr Spannung im Leben, nach Aufregung und damit verbundenem Herzklopfen, nach einer Erhöhung des Adrenalinspiegels. Was für die einen Risikosportarten, Glücksspiele, Auktionen oder Börsenspekulationen sind, stellt für passionierte Fremdgänger oder Fremdgängerinnen das Erträumen, Planen und Ausleben der neuesten Affäre dar. Der Thrill entsteht dabei unter anderem durch den Ruch des Verbotenen, Unmoralischen, durch die bittersüße Mischung aus Lust und der Angst, ertappt zu werden. Der Kick der geheimen Treffen macht die verdeckt Liebenden zu Partisanen des Alltags, die jede Möglichkeit eines versteckten Treffens peinlich genau austüfteln wie eine Flucht aus besetzten Gebieten.
Dazu kommt eine Erregung, die häufig aufgrund von ungünstigen Außenbedingungen nicht zeitnah gestillt werden kann, sondern als schmachtende Sehnsucht in das Denken, Fühlen und Handeln fließt. Derartig starke Emotionen können durch den offiziellen Partner nur noch in Ausnahmefällen ausgelöst werden und erklären sicherlich einen Teil der Faszination einer versteckten Liebe.
Kürzlich wurde eine große Onlinebefragung unter 55000 Männern und Frauen durchgeführt, die bereitwillig 200 Fragen in Sachen Sex beantworteten. Dabei stellte sich heraus, dass in puncto Seitensprung erstmals die Frauen die Männer von der Bettkante gestoßen haben: 38,9 Prozent der weiblichen Teilnehmer gaben an, schon einmal fremdgegangen zu sein, bei den Männern waren es fast zwei Prozent weniger. Weitere Zahlen gefällig? Die Hälfte aller Frauen will angeblich mehr Sex, als sie hat; bei den Männern sind es sogar 61 Prozent. Im Wunsch nach mehr Abwechslung sind sich die Geschlechter einig (ca. 68 Prozent Männer und Frauen).
Die meisten geheimen Nebenbeziehungen werden nicht durch Intrigen oder Verrat entdeckt, sondern durch Spuren, die man selbst leichtfertig hinterlässt. (…) Die Nummer eins in Sachen Datenspuren ist (…) mit Abstand das Handy. Wenn Sie verräterisches Material wie SMS, Nachrichten, Bilder und Ähnliches in ihm aufbewahren, sollten Sie sich hundertprozentig sicher sein, dass Ihr Hauptpartner, Ihre Hauptpartnerin Ihren PIN-Code nicht kennt. Aber auch dann birgt das Handy noch jede Menge Risiken: Am häufigsten fliegen Affären auf, weil das Gerät achtlos irgendwo in der Wohnung liegen geblieben ist und der andere, da es gerade klingelt, während Sie im Bad sind, einfach mal einen Blick darauf wirft. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt, mal eben die SMS zu checken, weil man einen leisen Verdacht hat. Und da hilft es auch wenig, die Nummer der oder des Geliebten mit ADAC oder Auskunft zu verschleiern. Wieso ruft der ADAC viermal am Tag an?
Karin-Sarah Reichelt/Sarah Küsters, Wer hat Angst vor dem Seitensprung. Gebrauchsanleitung für erotische Abenteuer, Köln 2009.
Das Verhältnis stellt sozusagen eine Steigerung des passageren Seitensprungs dar. Hier handelt es sich um länger dauernde Beziehungen, die parallel zu einer Ehe oder ähnlichen Zweierbeziehung unterhalten werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von der „Zweitfrau“ bzw. dem „Zweitmann“. Wer sich so einrichtet, führt ein „Doppelleben“. Sofern der (die) Betreffende diese „Nebenliebe“ verschweigt, muss er (sie) ein Lügengespinst entwickeln und viele Geheimnisse vor dem Partner haben. Das macht das alltägliche Leben ziemlich schwierig.
Joseph Rattner/Gerhard Danzer, Liebe und Ehe. Zur Psychologie der Zweierbeziehung, Darmstadt 2001
Intimizid – die Tötung des/der Geliebten
Es geht um die Frage, warum manche Menschen das töten, was sie lieben. Wohl kein anderer als Professor Marneros hat im Laufe seines Berufslebens mehr auf diesem Gebiet geforscht als der heute 66-Jährige. Er hat für das scheinbar Unbegreifliche sogar ein neues Wort geschaffen: Intimizid. So nennt die Wissenschaft inzwischen das Delikt, das bis 2008 als „Tötung des Intimpartners“ beschrieben wurde. Marneros war bis vor kurzem Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Für zahlreiche Gerichte hat er Hunderte von Gewaltverbrechern begutachtet, darunter Vergewaltiger, Sexualmörder und sogar Kannibalen. Die Motive derjenigen, die ihre Partner getötet haben, haben ihn ganz besonders interessiert. Er hat sie 30 Jahre intensiv erforscht.
„Zwei Menschen lieben sich, empfinden Zuneigung füreinander und entscheiden sich für eine gemeinsame Lebensperspektive. Oder sie mögen sich einfach und beschließen, schöne Dinge zu erleben. Dann irgendwann, nach vielen Jahren oder auch – in seltenen Fällen – kurz nach der Begegnung, tötet der eine den anderen. Der eine begeht am anderen das schlimmste aller Verbrechen: die Enttabuisierung und Vernichtung menschlichen Lebens.
Aber nicht irgendeines Lebens, sondern des Lebens des Intimpartners. Welche Abgründe erstrecken sich zwischen der Schönheit der ersten Begegnung und dem apokalyptischen Moment, in dem das Böse den Vorhang der gemeinsamen Bühne schließt? Zwischen dem Schönen und dem Bösen liegt ein ganzes Bündel von Emotionen, Prozessen, Handlungen, Traumatisierungen, Hoffnungen und Interaktionen zwischen beiden Intimpartnern.“
„Es gibt verschiedene Motive für einen Intimizid, aber der wichtigste Grund, den wir in der Mehrzahl gefunden haben – und das geht konform mit der internationalen Literatur –, ist der, dass die Selbstdefinition des einen Partners durch den anderen erschüttert wurde.“
„Die etablierte Partnerschaft ist für uns eine Ressource der Selbstdefinition, also des Selbstwertgefühls. Verlässt ein Partner den anderen, bedeutet das für den Verlassenen eine Erschütterung seiner Selbstdefinition, also seines Selbstwertgefühls.“ Im Kern gehe es dann um die Frage: Warum tut sie mir das an? Seltener auch: Warum tut er mir das an? „Und dann beginnt eine Kette von Gedanken, von Gefühlen, die genau diese Selbstdefinition erschüttert.
Nicht immer, aber in der Regel ist die Tötung des Intimpartners nicht programmiert, obwohl manche Täter sagen: ,Wenn ich Dich nicht haben kann, dann soll Dich auch kein anderer bekommen‘. Aber das sind Affekte, nicht Planungen.“ Die Tötungssituation sei „eine finale Bankrottreaktion, ein Versagen der Mechanismen des Menschen“. Deshalb seien fast alle Tötungen des Intimpartners Affekttaten. Marneros vergleicht einen plötzlichen Ausbruch mit einer zerstörerischen Welle. „Ein affektiver Tsunami macht alles kaputt. Nach dem Verbrechen ist der Täter meist völlig ratlos. Er fragt sich: Was habe ich da Wahnsinniges gemacht? Erst jetzt realisiert er, was passiert ist.“ Bei einem Intimizid spiele Kränkung eine wichtige Rolle. „Das, was wir als narzisstische Kränkung bezeichnen, ist in diese Erschütterung der Selbstdefinition involviert: Sie verlässt mich. Warum? Meine Gedankenwelt ist: Weil ich ein Versager bin, weil ich bankrott bin, weil ich unfähig bin, weil ich nicht schön genug bin und solche Dinge.“
Eine solche narzisstische Kränkung sei ein zweistufiger Prozess. „In der ersten Phase haben wir die langfristige Kränkung, die einige Tage, Wochen, Monate oder auch Jahre dauern kann. Es ist die Vorbereitung für den Intimizid. In einer solchen akuten und finalen Situation bringe eine Provokationssituation, also eine Beleidigungssituation, eine weitere Kränkung mit sich. Es ist möglich, dass diese als Auslöser wirkt. Aber von größerer Bedeutung ist natürlich die langfristige Kränkung“, erklärt der Wissenschaftler – und fügt hinzu: „Es finden Prozesse statt, die die Persönlichkeit des Täters labilisieren.“
Die Tötung eines Menschen, den man einmal sehr geliebt hat, sei keine Erfindung der Neuzeit, sagt Marneros. Intimizide habe es zu allen Zeiten gegeben. „Bestes Beispiel in der Weltliteratur ist die Tötung des Agamemnon. Das war der Kriegsführer der Griechen in Troja. Als er nach zehn Jahren nach erfolgreichen Siegen zurückkehrte, wurde er von seiner Frau Klytämnestra getötet. Das war natürlich kein Affektdelikt, sondern ein geplanter Mord, denn sie hatte einen anderen.“ Es gebe viele andere Beispiele: Woyzeck habe Marie erstochen und der Boxer Bubi Scholz seine Helga erschossen.
In Bad Pyrmont ereignete sich im Juli 2011 ein brutales Verbrechen. Ein junger Mann würgte und tötete seine Lebensgefährtin mit 30 Messerstichen. Anschließend verging er sich an der Toten und stellte seltsame Dinge mit der Leiche an. Für den Strafverteidiger Roman von Alvensleben, der den Hinterbliebenen der Getöteten als Opfer-Anwalt zur Seite stand, „ist diese Tat das wohl intensivste Beispiel für einen Intimizid“. Der Jurist glaubt, dass sich nicht aufklären lässt, welche Gedanken den Täter geleitet haben und welche Gefühle für diesen Ausbruch von Gewalt ursächlich waren. „Bei dem Täter muss Verlustangst grenzenlose Gewalt, aber auch ein Verlangen nach Nähe ausgelöst haben“, meint der Anwalt. Der psychiatrische Gutachter habe bei dem unter einer Persönlichkeitsstörung leidenden Täter auch „ein verwirrtes Bild von Liebe“ festgestellt. „Es gab Briefe des Täters, in denen der junge Mann bereits angekündigt hatte, nicht loslassen zu können. Eine wesentliche Rolle spielte auch das soziale Netzwerk Facebook.
Dort hatte die 21-Jährige am Tag vor der Tat ihren Beziehungsstatus zunächst von verlobt in problematisch und dann in alleinstehend geändert. Der Täter soll das gesehen haben.“ Auf diesen Fall angesprochen, sagt der Psychiater Marneros: „Nach einer Affekttat – dazu gehört auch der Intimizid – sind die Reaktionen des Menschen vielfältig. Da gibt es Täter, die absolut ratlos sind, und Leute, die in Panik geraten, oder Menschen, die direkt danach einen Suizidversuch unternehmen. Und da gibt es diejenigen, die sogenannte unsinnige Handlungen machen. Diese Aktionen haben mit der psychischen Verfassung des Täters postdeliktisch, also mit dessen Befinden direkt nach dem Delikt zu tun.“ Die Wissenschaftlerin Silke C. Rabe vom Institut für Rechtspsychologie der Universität Bremen ist bei ihren Studien zu dem Schluss gekommen, dass Intimizide am häufigsten in etablierten (nichtehelichen) Partnerschaften vorkommen. „Dann nämlich, wenn das spätere Opfer – in der Regel ist das die Frau – eine Trennung anstrebt.“
„Von diesem Ausgangspunkt aus betrachtet könnte man die Frage, warum ein Mann die Frau tötet, die er liebt, so beantworten, dass er durch den Mord seine Partnerin behalten will.“ Anders ausgedrückt: Die Tötung aus Liebe kettet zwei Menschen auf ewig aneinander. In einem Fall, mit dem sich die Bremer Wissenschaftlerin näher befasst hat, habe sich der Täter erst ein Jahr nach der Trennung – und obwohl er bereits eine neue Partnerin hatte – „für Mord entschieden, da bei ihm die Befürchtung akut wurde, dass auch sie einen neuen Partner finden würde. Wir sprechen in solchen Fällen von sogenannter sexueller Besitzstandswahrung.“ Neben diesen Macht- und Kontrollmotiven gebe es aber auch Fälle, bei denen es um Erniedrigung, Bestrafung und Rache für eine erlittene Trennung geht und der Täter sich deshalb berechtigt fühlt, die Tötung durchzuführen, erklärt Silke C. Rabe. Axel Brünger, Leiter des 1. Fachkommissariats in Hameln, das für Mord und Totschlag zuständig ist, zählt Verlustangst, verschmähte Liebe und gekränkte Eitelkeit als häufige Motive für einen Intimizid auf. „Bei sehr vielen Tötungsdelikten, die wir aufgeklärt haben, hatte es zuvor zwischen Täter und Opfer eine Liebesbeziehung gegeben. Brünger hat Schwierigkeiten mit dem Begriff „Liebesmord“. „Hassmord trifft es meiner Meinung nach in vielen Fällen besser“, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar, der seit 1979 Polizeibeamter ist und bereits mehrere Mordkommissionen geleitet hat. Für den Kriminalisten muss ein klassischer Liebesmord eine ganz besondere Vorgeschichte haben. Brünger nennt ein Beispiel: „Nach einer langen Ehe wird einer der beiden Partner sehr krank. Schließlich erlöst der Gesunde den Kranken aus ehrlicher Liebe zu ihm von seinen Leiden.“ Es ist wohl eine Frage der Definition und Sichtweise.
Wenn es um die Tötung des Intimpartners geht, ist Hass für Psychiater Marneros nicht das richtige Wort. „Hass ist – wenn überhaupt – ein vorübergehender Aspekt, der in einen Prozess eingebaut wird“, sagt er. „Nein, nein“, meint der Wissenschaftler, „das hat nur mit Liebe zu tun.“ Die Bremer Forscherin Rabe sieht das genauso: „Die Bezeichnung Hassmord ist weniger passend, denn den Ausgangspunkt eines Intimizids bildet eine einvernehmlich eingegangene sexuelle Beziehung – und nicht etwa Hass gegen bestimmte Gruppen wie bei Morden im homosexuellen Milieu oder bei terroristischen Anschlägen. Der Ausgangspunkt ist nicht erwiderte oder enttäuschte Liebe, nicht unbedingt oder nicht ausschließlich Hass.“
Ulrich Behmann, Warum Menschen töten, was sie begehren, in: Schaumburger Nachrichten, 28.6.2013.
Wie ist es also möglich, dass von zwei Liebenden der eine zum Verbrecher und der andere zum Opfer wird? Was treibt einen Menschen dazu, seinen Partner oder Expartner mit einem Messer zu traktieren, bis dieser vor seinen Augen verblutet?
Eine grundlegende Antwort gaben 2007 schon Hans Markowitsch und Werner Siefer in ihrem Buch „Tatort Gehirn“: Letztlich steckt in jedem von uns ein Verbrecher. (…)
Das gilt ebenso für den so genannten Intimizid. Wie es im Detail dazu kommt, dass ein Mensch den geliebten Partner ums Leben bringt, beschreibt (…) Andreas Marneros, Professor für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Halle [in seinem Buch „Die Tötung des Intimpartners“] Seit Jahrzehnten widmet er sich dieser Frage im Rahmen von Gerichtsgutachten. Seine zentrale These: Beim Intimizid bilden Täter und Opfer ein System, das sich gegenseitig aufschaukelt und schließlich außer Kontrolle gerät, bis es bei einer Person zu einer explosiven Reaktion kommt. Dem finalen Akt liegen Störungen der Impulskontrolle und Dysfunktionen der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin im Gehirn zu Grunde. Die betroffenen Personen sind leicht reizbar und neigen zu aggressiven Reaktionen (…). Dass Liebe und Hass nahe beieinanderliegen, hat kürzlich eine (…) Studie auch neurobiologisch nachgewiesen. Demnach sind bei beiden Gefühlen die gleichen Hirnstrukturen vermehrt aktiv.
Marneros beschreibt verschiedene Formen von Täter-Opfer-Systemen: den Mord in Folge einer narzisstischen Kränkung, aus Verzweiflung angesichts eines „Lebensbankrotts“, zum Selbstschutz oder als Akt der Emanzipation. Im Rahmen einer Psychose können sogar halluzinierte Stimmen zum Töten auffordern. Bei einseitig erwünschten Beziehungen sind Morde oft sexuell motiviert, manchmal im Rahmen von Perversionen, wie schon einige Male im Film dargestellt. So manche grausame Tat lässt sich (…) besser nachvollziehen.
Erich Kasten, Bei Liebe Mord, in: Spektrum, 11.5.2009.
„Jeder kann zum Mörder werden“ – der Psychiater Andreas Marneros im Gespräch
Haben Sie schon einmal den Impuls verspürt, eine Frau, die Sie lieben, zu töten?
Nein, zum Glück nicht. Wir alle sind ja durch zivilisatorische Prozesse gebändigt. Aber ich weiß nicht, wie ich in einer bestimmten, absolut ungünstigen Konstellation handeln würde.
Sie sagen, im Prinzip sei jeder von uns fähig, den Liebsten zu töten, den „Intimpartner“, wie Sie es nennen.
Richtig. Die meisten von uns werden mit ziemlicher Sicherheit keine Diebe, Betrüger oder Vergewaltiger. Das haben wir in der Hand. Aber keiner kann sich sicher sein, nicht zum Mörder aus Liebe zu werden.
Was fasziniert Sie an diesen Taten?
Das Archaische, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Menschen ihre Partner töten, spielen sich Tragödien griechischen Formats ab, von der Schönheit der ersten Begegnung bis zum apokalyptischen Ende. Zum ersten Mal sah ich das so deutlich, als ich den Direktor eines Kombinats in der ehemaligen DDR untersuchte, der seine Frau getötet hatte. Es war eine Ehe aus Liebe gewesen, sie hatte einige Jahre lang funktioniert. Da habe ich mich gefragt: Wie kommt das? Man liebt sich, verbringt schöne Momente miteinander, und irgendwann stellt man fest: Wir können nicht miteinander. Gut, so etwas passiert häufiger. Aber wie kommt es zum Töten?
Was ist Ihre Erklärung?
Der Auslöser dafür, dass Menschen ihren Partner töten, ist fast immer eine Kränkung. Insofern war das ein Fall wie aus dem Bilderbuch. Er war eigentlich eine solide Persönlichkeit. Nach dem Mauerfall wurde er zum Wendeverlierer. Anders seine Ehefrau: Sie wollte einen freizügigeren Lebensstil, probierte Telefonsex, hatte Sex mit anderen Männern. Die beiden entschieden, sich zu trennen. Bei der Übergabe des Schlüssels zur ehemals gemeinsamen Wohnung, in letzter Sekunde, kam es zum Streit, dabei hat er seine Frau erwürgt. Als die Polizei kam, saß er in der Küche auf einem Hocker, am Boden zerstört. Das Erste, was er zu den Polizisten sagte, war: Verwechseln Sie bitte Täter und Opfer nicht.
Wie war das gemeint?
Er sah sich als Opfer. Die Frau hatte ihn provoziert. Dieser Affekt, die plötzliche Wut, verlieh ihm die Entschlossenheit dazu. Es ist ja nicht leicht, einen Menschen zu erwürgen. Man braucht große Kraft, man muss vier, fünf, sechs Minuten zudrücken – eine unendliche Zeit.
Ist die Wut umso größer, je größer vorher die Liebe war?
Je stärker meine Liebe, desto größer die Erwartungen – und umso tiefer der Fall, wenn ich enttäuscht werde. Die Wut richtet sich nicht nur gegen den Partner, sondern auch gegen mich selbst, weil ich so danebenlag. Wenn dann eine akute Provokation hinzukommt, ist diese Wut nicht mehr zu bändigen. Ich nenne das den „Bösen Moment“, Bruchteile von Sekunden, in denen es zu enormen Eruptionen von Wut, Zorn oder Angst kommt. Wir handeln dann gegen unseren Willen, unsere Vorsätze, unsere Vernunft.
Haben Sie eine Vorstellung von Ihrem Bösen Moment?
Nein. Ich glaube, die hat keiner von uns. Fast alle Liebesmörder töten, weil ihr Selbstbild in Gefahr ist. Manche sind typische Lebensbankrotteure. Ich sehe noch diesen Mann vor mir, der seine Frau mit dem Gürtel seines Bademantels erdrosselt hat. Es waren einfache Leute, die nicht viel Geld besaßen. Sie hatten eine neue Küche bestellt, die für die Frau eine große Befriedigung bedeutete. Er sah sich als derjenige, der ihr diesen Wunsch erfüllen konnte. Nun kam der Morgen, an dem die Küche geliefert werden sollte. Der Lieferwagen stand schon vor der Tür – und er hatte nicht den Mut zu sagen: Wir können uns die Küche nicht leisten. Der Böse Moment wurde hier ausgelöst durch die Angst, zuzugeben: „Ich bin ein Versager.“ Es ist die Angst, die Achtung des anderen zu verlieren – und damit meinen Selbstwert.
Sind solche Täter am Ende erschrocken über sich selbst?
Vielleicht. Menschen, die ihren Intimpartner töten, sind ja nicht immer an sich gewalttätige oder brutale Menschen. Es sind meistens Menschen wie Sie und ich. Die meisten planen diese Tat nicht. Es geschieht im Affekt. Hinterher sagen sie: Für mich war das undenkbar.
Haben solche Menschen Gemeinsamkeiten?
Viele dieser Täter sind schwache Persönlichkeiten, auch in der Beziehung sind sie in der Regel der Schwächere. Über lange Zeit destabilisieren die Probleme in der Partnerschaft die Persönlichkeit des Täters. Dann kommt die narzisstische Kränkung hinzu.
Zum Beispiel, indem sie ihn verlässt.
Genau. Und dann fällt der typische Satz: „Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch kein anderer haben.“ Sehr bewegt hat mich der Fall eines Maschinenschlossers, erfolgreich, aber zwanghaft. Seine Frau war seine erste Liebe, die einzige Frau in seinem Leben. Es war für ihn undenkbar, dass einer von beiden einen Seitensprung begeht; das hätte die Ordnung zerstört. Aber genau das tat sie. Als ihm klarwurde, dass sie weggehen wollte, fasste er den Plan, sie daran zu hindern. Er verabredete sich mit ihr zu einem letzten Gespräch, angeblich, um doch noch eine Lösung zu finden. Die Frau hatte Ahnungen, also nahm sie einen Recorder mit. Man fand ihn bei der Obduktion in ihrer Kleidung. Auf dem Tonband konnte ich den ganzen Mord hören. Die Frau schrie: „Tu das nicht!“ Man hörte, wie er nach dem Mord mit langsamen Schritten in die Küche ging, man hört das Wasser laufen. Er hat das Messer saubergemacht und drei Briefe hinterlassen, für die Söhne, er hatte eigentlich vor, sich umzubringen. Er bat sie, das Telefon abzumelden, die Blumen zu gießen und den Kühlschrank leerzuräumen, damit die Lebensmittel nicht verderben.
Kann man solche Dramen vorhersehen?
Nur, wenn ein bestimmter, bösartiger Persönlichkeitstypus im Spiel ist, der „maligne Narzisst“. Er sagt: Ich bin der Beste, ich bin der Stärkste. Wenn der Partner aufhört, ihm das zu bestätigen, wird es gefährlich. Der maligne Narzisst hat nicht die Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen. Er ist enorm aggressiv, er kann seine Impulse nicht beherrschen, er hat keine Achtung vor sozialen Normen. Bei dieser Kombination braucht man kein Fachmann zu sein, um böse Ahnungen zu bekommen.
Es gibt trotzdem Frauen, die sich in diese Typen verlieben. Fehlt ihnen die Intuition?
Ich habe eine andere Vermutung. Ich denke, zumindest in der ersten Phase der Beziehung übt dieser Typ mit seinen Aggressionen auf bestimmte Frauen eine Faszination aus.
Die Faszination des Bösen?
Ja. Vor vielen Jahren habe ich einen Serienmörder untersucht. Er hatte kurz hintereinander drei Frauen umgebracht, er hatte sie gefesselt, vergewaltigt und dann die Körper dieser Frauen durch Schläge buchstäblich vernichtet. Später gab er im Maßregelvollzug ein Fernsehinterview. Eine junge Frau aus Niedersachsen sah es, brachte alles über ihn in Erfahrung – und bemühte sich um eine Besuchserlaubnis. Sie fing mit ihm eine Liebesbeziehung an. Ich habe viele solcher Frauen kennengelernt.
Steckt dahinter die Machtphantasie, eine Bestie zähmen zu können?
So ähnlich. Die Frau sagt sich: „Ich spiele mit dem Feuer. Ich habe die Stärke dazu. Solange er in Haft ist, ist er ungefährlich.“ Sie können das vergleichen mit Bungeejumpern, die in die Tiefe springen und vor Angst schreien. Sie wissen, es passiert ihnen nichts, das Seil hält.
Ist das Angstlust?
Das ist ein gutes Wort dafür. Und dann gibt es noch die Frauen mit Helfersyndrom. Ich denke an eine religiöse, konservative Frau, die eine Beziehung zu einem Serienmörder entwickelte. Sie hatte die Vorstellung: „Ich rette ihn.“
Am Ende geht es darum, nicht allein zu sein.
Richtig, Liebe gibt Sicherheit. Ich gehöre zu jemandem, jemand gehört zu mir, und wir gehören zusammen. Bis dass der Tod uns scheidet. Das neutralisiert unsere angeborene Angst, verlassen zu werden. Diese Angst wird mobilisiert, wenn der Verlust des Partners droht.
Sind wir deshalb in der Liebe am angreifbarsten?
Genau. In meinen Beruf habe ich Ehrgeiz investiert, Zeit, Fähigkeit. In die Liebe habe ich mich selbst investiert. Deswegen bin ich so verletzbar. Mein Selbstwertgefühl ist davon abhängig, wie sehr mich mein Partner schätzt und akzeptiert. Die Partnerschaft ist Teil meiner Selbstdefinition, Teil von mir …
… und der Mord der Versuch, die Beziehung zu erhalten?
Mord kann eine Form der Beziehung sein; wir sprechen hier natürlich nicht von Auftrags- oder von Raubmorden. Intimizid ist gewissermaßen eine makabre, endgültige Art der Beziehung. Einer der häufigsten Sätze, die ich von diesen traurigen Gestalten gehört habe: „Ich liebe sie noch immer.“ Der Mord aus Liebe kettet zwei Menschen schicksalhaft auf ewig aneinander.
Ist der Hass, der am Ende die Tat möglich macht, von Anfang an da – als schwarze Seite der Liebe?
Ich habe Probleme mit diesem Begriff. Was bedeutet Hass? Hass ist ein negatives Gefühl. Ich nehme den anderen als minderwertig wahr, ich entwerte ihn. (…)
Täuscht der Eindruck, oder spielt Sexualität beim Liebesmord kaum eine Rolle?
Wenn überhaupt, geschehen Sexualmorde unter Partnern eher in kurzen oder sporadischen Beziehungen. (…)
Wie lange dauert es, bis solche Menschen das Ausmaß ihrer Tat überschauen?
Die meisten Menschen, die ihren Partner getötet haben, sagen Sekunden danach: „Das wollte ich nicht! Was habe ich Wahnsinniger gemacht?“ Viele wollen sich nach ihrer Tat selbst umbringen. Oder sie vollführen sinnlose Handlungen. Ich erinnere mich an den Direktor einer Baufirma, der beruflich erfolglos war. Er hatte eine sehr rigorose Frau, eine Spanierin, die ihm ständig seine Schwächen vorhielt. Er empfand sie als seine Richterin, fast alttestamentarisch. Bis er eines Tages, im Affekt, diesen Richter eliminierte. Danach verbarrikadierte er sich mit der Leiche im Badezimmer, legte sie in die Wanne, zündete Kerzen an und praktizierte seltsame Rituale mit ihr, 30, 40 Tage lang. Das war seine Reaktion auf das Unerwartete. (…)
Erwarten wir anderen möglicherweise zu viel von der romantischen Liebe, einer Erfindung der Neuzeit?
Ach, den Liebesmord gab es zu allen Zeiten. Klytämnestra erschlug Agamemnon, Woyzeck erstach Marie, der Boxer Bubi Scholz erschoss seine Helga. Das gehört zur menschlichen Tragödie, von Anfang an. Man fragt sich: Wäre es nicht möglich gewesen, dass durch die Entwicklung der zivilisierten Gesellschaft, die wir in den letzten hundert Jahren erlebt haben, viel mehr Selbständigkeit entsteht? Dass wir nicht mehr so abhängig sind von der Meinung, der Wertschätzung des anderen? Du bist fremdgegangen? Okay, wir finden eine Lösung. Aber nein: Das Problem ist in den letzten 2500 Jahren nicht geringer geworden.
Und das trotz 68, trotz freier Liebe und modernem Scheidungsrecht.
Interessant, nicht? Weil es tief in uns verwurzelt ist. Es sind zivilisatorische Prozesse, die im Lauf von Tausenden Jahren stattgefunden haben; das gehört eben zur menschlichen Psyche.
Ist die Gefahr größer, wenn man verheiratet ist?
Die Ehe mit all ihren Etablierungen kann ein erhöhtes Risiko darstellen.
Morden Männer und Frauen aus unterschiedlichen Gründen?
Mord ist normalerweise Männersache, die Opfer sind meist Fremde. Intimizide machen nur einen kleinen Anteil aus. Frauen dagegen töten, was sie lieben: ihren Partner, ihre Kinder. Bei Frauen finden wir zwei Kategorien von Intimiziden häufiger: den sogenannten Emanzipationsversuch. Der Mann quält die Frau, dominiert sie, bis es nicht weitergeht. Dann macht sie einen Befreiungsschlag. Die zweite Form ist die Tötung aus Selbstschutz. Ich kann mich an eine liebenswürdige junge Frau erinnern. Sie hatte einen pathologisch eifersüchtigen Mann. Irgendwann wurde er gewalttätig. Die beiden hatten eine Auseinandersetzung in der Küche, es war wie im Film „Rosenkrieg“ mit Michael Douglas und Kathleen Turner. Nur ohne Kronleuchter. Er packt sie am Hals und schüttelt sie, sie nimmt ein Messer, spontan, und sticht ein einziges Mal zu. Der Mann sackt zusammen, sie ruft: „Bitte stirb nicht, tu mir das nicht an!“ Sie wurde später freigesprochen, das Gericht erkannte auf Notwehr.
Kann man sagen: Frauen töten, um sich zu befreien, Männer, um zu behalten?
Das wäre sehr plakativ. Es gibt bei Frauen auch den Eifersuchtsmord. Aber bei Männern ist der selbstdefinitorische Moment viel stärker. Ich denke da an einen besonders tragischen Fall: einen Dachdecker. Er hatte eine Frau, vier Kinder, ein großes Haus. Aber er konnte die Miete nicht bezahlen. Der Räumungstermin stand bevor, seine Familie wusste nichts davon. Er spielte ihnen vor, dass er ein anderes, größeres Haus gefunden hätte. Die Familie hatte alles in Kartons gepackt. Am nächsten Tag sollte der imaginäre Umzug stattfinden.
Eine aussichtslose Lage.
Andere wären vielleicht zur Schuldnerberatung gegangen, er nicht. Nun stand er wie vor einer Wand. Er saß unten in seinem Sessel, die anderen oben schliefen schon, und er dachte die ganze Zeit: Was mache ich jetzt? Entweder muss ich meiner Familie sagen: Euer Vater und Ehemann hat gelogen, er ist ein Versager. Das war die eine Möglichkeit. Die andere war: Ich eliminiere die Familie. Das hat er dann auch getan.
Fühlte er sich nach der Tat einsam, oder war er endlich frei?
Schwer zu sagen. Alle hatten sich von ihm abgewendet. Andererseits schien sein Selbstmitleid größer zu sein als das Mitleid mit seinen Kindern und seiner Frau. Er hob das Ganze auf eine technische Ebene. Er erzählte mir im Detail, wie er die Kinder getötet hatte, den Älteren mit einem Hammer, die anderen mit einem Kissen. Seine zweijährige Tochter hat er erst am nächsten Morgen getötet. Er hat zuerst mit ihr gespielt und sie dann mit einem Kissen erstickt.
„Jeder Mensch ist ein Abgrund“, hat Georg Büchner geschrieben, „es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“
Marneros: Das Gefühl, in einen Abgrund zu sehen, habe ich einmal fast körperlich erlebt, als ich einen Kannibalen explorierte. (…) Beim Zuhören hatte ich tatsächlich das körperliche Gefühl, an einem Abgrund zu stehen und hinunterzuschauen. Gleichzeitig, und das war das Merkwürdige dabei, hatte ich das Gefühl, dass dieser Mann in seinem Abgrund etwas Außergewöhnliches erlebt. Etwas, das uns normalen Menschen nicht zugänglich ist.
Beate Lakotta und Hauke Goos im Gespräch mit Andreas Marneros, in: Der Spiegel, 03.09.2012.
Man fragt sich, wie so etwas möglich ist. Wie ist es möglich, dass Menschen, die sich einmal geliebt haben oder sich immer noch lieben, ihre Beziehung auf so eine tragische Weise beenden können: mit der Tötung des einen Partners durch den anderen? Wie ist es möglich, dass der eine Intimpartner zum Verbrecher wird und der andere zum Opfer? Wer wird zum Verbrecher? Wer wird töten?
Wer kann seinen Intimpartner töten? Wie aus den einzelnen paradigmatischen Fällen, die in diesem Buch dargestellt werden, und der daraus erarbeiteten Typologie hervorgeht, schützen kein bestimmter Persönlichkeitstypus und keine bestimmte Biographie, keine bestimmte soziale Umgebung und keine bestimmte Begabung, kein sozialer Status und kein Bildungsniveau vor Gewalt und Tötung, auch nicht vor einem Intimizid.
Aber auch umgekehrt: Das Vorhandensein einer bestimmten problematischen Persönlichkeitsstruktur, einer bestimmten negativen Sozialisation, einer bestimmten psychischen Störung oder Intelligenzminderung bedeutet keineswegs gewalttätiges Verhalten. Es geht hier lediglich um Parameter, nicht einmal um „Vorbedingungen“ gewalttätigen Verhaltens, die nicht unbedingt eine determinierende Bedeutung haben müssen.
Jeder kann Gewalttäter werden, nicht nur derjenige mit einer negativen Biographie, mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen oder einer bestimmten psychologischen Problematik. Und jeder kann seinen Intimpartner töten, auch wenn das schrecklich klingen mag und ein solcher Satz bei uns heftige Ängste und Abwehrkräfte mobilisiert. Ein Beleg dafür? Übereinstimmend zeigen kriminalistische Studien, dass die größte Gefahr für eine Frau, getötet zu werden, von ihrem Intimpartner ausgeht – Ehemann, Lebensgefährte, ephemerer Freund oder Freier.
Es ist nicht übertrieben, wenn man zu dem Schluss kommt, dass bei jedem Intimizid, der aus einer Erschütterung der Selbstdefinition entsteht, narzisstische Komponenten eine zentrale Rolle spielen. (…)
Der offene Narzissmus ist gekennzeichnet durch ein grandioses Selbst, durch Verlangen nach Aufmerksamkeit und durch Charme, aber Unsensibilität den Bedürfnissen anderer gegenüber.
Der verdeckte Narzissmus ist dagegen geprägt durch Unterlegenheitsgefühle gegenüber anderen, Überempfindlichkeit gegen Bewertungen durch andere und generelle Unzufriedenheit (…).
Gerade die Form des verdeckten Narzissmus kann bei Intimiziden und insofern auch bei Affektdelikten eine wichtige Rolle als Bestandteil der psychologischen Prozesse spielen, die bei prähomizidalen Konstellationen ablaufen.
[Es] ist leicht erkennbar, dass beide Formen der narzisstischen Psychologie zu Konstellationen führen können, die Voraussetzungen für ein Affektdelikt im Allgemeinen und für einen Intimizid im Speziellen schaffen können. Aber vor allem der „verdeckte Narzissmus“ kann auf der Ebene des Selbstkonzeptes, der interpersonellen Beziehungen, der sozialen Anpassung, der Liebe und Sexualität und in Bezug auf die kognitiven Stile einen geeigneten Boden dafür abgeben.
Narzissten sind im Grunde genommen sehr unsichere Personen. Ihr Selbstbild von Großartigkeit und Omnipotenz ist wacklig und brüchig. Sie sind hochgradig kränkbar, Kritik und Ablehnung können sie leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Der psychiatrische Begriff der „narzisstischen Störung“ meint klinische Auffälligkeiten, die das eigene Bild und das Selbstwertgefühl betreffen. Dabei handelt es sich immer um Aspekte der Selbstwertregulation. Verletzungen des Selbstwertgefühls können in gewalttätiges Verhalten münden, das gegen die eigene Person gerichtet wird, sie können aber auch Gewaltanwendung gegen andere Personen hervorrufen (…). Wenn manche Kulturpessimisten von einer Gesellschaft der „Ichlinge“ (wobei man sich, am Rande bemerkt, fragen sollte, wieso man den trefflichen und in allen Sprachen etablierten Begriff „Egoist“ mit den unschönen Wort „Ichling“ übersetzen soll) sprechen, meinen sie nichts anderes als die Ichbezogenheit der angeblich narzisstischen modernen Gesellschaft (…).
Narzisstische Konflikte werden als Selbstwertkonflikte betrachtet, und insofern werden die Grenzen zum Normalen schwer bestimmbar. Die Erhaltung und Wiederherstellung eines hinreichend guten Selbstwertgefühls ist eine Grundmotivation jedes Menschen; von Narzissmus (in seiner pathologischen Form) sollte man nur dann sprechen, wenn die Regulierung des Selbstwertgefühls problematisch ist und sich dadurch spezifische Beziehungsprobleme ergeben (…). Das bedeutet, es gibt verschiedene Formen narzisstischer Störungen und narzisstischer Reaktionen. Kritik, Ausbleiben der Bestätigung und Bewunderung, das auch durch ein Fremdgehen oder Verlassen entstehen kann, können dabei die vielfältigsten Reaktionen erzeugen: Depression oder große Wut und Zorn, Angst oder Aggressivität, Selbstdestruktion oder Gewalt gegen andere. Pathologische Narzissten sind unendlich kränkbar und unfähig, sich in die Bedürfnisse anderer Menschen einzufühlen. Bewusst oder unbewusst haben Menschen mit narzisstischen Störungen die Tendenz, andere Menschen auszunutzen und auszubeuten (…). Neid kann ein leitender Affekt sein und Unversöhnlichkeit eine charakteristische Haltung.
Die erhöhte Kränkbarkeit ist beim Narzissmus so zentral, dass die „narzisstische Störung“ als erhöhte Kränkbarkeit definiert wird. Außerdem zeigen narzisstische Persönlichkeiten in verschiedenen Feldern eine defizitäre Kompetenz. Sie streben aber nach Macht, um ihr fragiles Selbstwertgefühl zu regulieren bzw. zu kompensieren. In Fällen, in denen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung eingehen, kommt es in Krisensituationen zu destruktiven und selbstdestruktiven Entladungen. Paarbeziehungen werden von Narzissten je nach Grad der Störung häufig als Machtausübung verstanden. Der Widerstand dagegen, das Fehlen von Anerkennung, das Entfliehen aus diesem Machtgefüge führt zu narzisstischer Kränkung, narzisstischer Wut und zu einer Steigerung ihrer Machtattitüden (…).
Die Gefährlichkeit der Reaktionen auf eine narzisstische Kränkung liegt vor allem im Zu- stand der „selbstgerechten Wut“, die sich ziemlich explosiv einstellen kann (…). Die betroffene Person kann noch im Moment der Kränkung durchaus ruhig und gefasst sein, dann aber ganz plötzlich voller Rache und Feindseligkeit reagieren. Die Gewalttätigkeit, die in der „selbstgerechten Wut“ enthalten ist, unabhängig davon, ob sie sich körperlich oder verbal manifestiert, überschreitet die üblichen sozialen Toleranzgrenzen. Dieser Zustand kann manchmal in blinden Hass ausarten, in dem eine destruktive Bereitschaft, andere zu verletzen, vorhanden ist.
Die narzisstische Kränkung ist bei fast allen Beziehungstaten, die als Affekttaten verlaufen, zu finden (…)
Als Reaktionen auf Kränkungen erleben wir neben Verletzung und Scham Gefühle von Wut, Rache und Trotz. Der Kränkende wird in Kränkungswut seinerseits vom Gekränkten vollständig abgelehnt, abgewertet, als böser Mensch etikettiert. Diese Form der Wut ist mit Verachtung gepaart und richtet sich darauf, die Macht über den anderen zu erringen. Zu dieser Wut gehören eine hohe Destruktivität, Kälte und Gnadenlosigkeit. In der Kränkungssituation definiert sich der Gekränkte als Opfer, der Kränkende wird zum Täter abgestempelt. Das gekränkte Opfer kämpft um sein Recht und seine Ehre und wird auf diese Weise zum Täter (…).
Es gibt bei den Kränkungsreaktionen kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Beide Geschlechter können durch die gleichen Ereignisse gekränkt werden und erleben Kränkungen in ähnlicher Weise. Kränkungsreaktionen werden subjektiv als Ohnmacht, Wut, Verachtung, Enttäuschung und Trotz erlebt. Dahinter sind Gefühle von Schmerz, Angst und Scham verborgen, die oft weder gespürt noch ausgedrückt werden. Stattdessen wendet sich die Kränkung meist in Form von Gewalt gegen den Kränkenden. Wut und Verachtung sind gleichsam Schutzreaktionen vor dem Schmerz der Verletzung. Ihr Ziel ist es, die schmerzliche Gekränktheit zu beenden und zu neutralisieren (…).
Aber nicht nur hier passt sehr gut der Begriff des „kannibalischen Narzissmus“ (…). Von kannibalischer Form des Narzissmus spricht man, wenn das Selbstwertgefühl dadurch aufrechterhalten wird, indem es zerstört, was es zu seiner Regeneration benötigt. Wer einen anderen entwertet, wertet sich dadurch selbst auf. Daran erinnert der neutestamentarische Spruch des Pharisäers: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute …“ (Lukas 18, 10). Diese pharisäische Haltung – daher auch der Begriff des „pharisäischen Narzissmus“ – wird im kannibalischen Narzissmus in der Form zugespitzt, dass sie nicht Fernstehende trifft, sondern Nahestehende, welche einmal idealisiert wurden und nun in ihrer Entwertung auch den eigenen Wert in dem Sinne gefährden: „Ich bin besser als du, du bist an meinem Elend schuld.“ (…). Die kannibalische Dynamik des Narzissmus setzt ein, wenn das Selbst in Bedrängnis gerät. Nicht nur in Enttabuisierungsprozessen, etwa Tötungsdelikten, spielt das eine Rolle, sondern auch in der alltäglichen Paarbeziehung. Im Stadium des kannibalischen Narzissmus wird eine einst (oder immer noch) geliebte Person geschädigt oder zerstört, um das eigene Überleben zu sichern. Beispiele: Eine Frau zieht ihre Tochter ins Vertrauen: Der Vater sei ein brutaler Geselle, sie liebe ihn nicht, sie bleibe nur aus Angst bei ihm, um der Familie den Versorger zu erhalten. Oder: Ein Vater zeigt seinem Sohn in einem Lehrbuch der Psychiatrie den Text über hysterische Störungen. Da finde er doch die Mutter beschrieben, wie sie leibt und lebt.
Entwertung und Erniedrigung des anderen stützen das eigene Selbstgefühl, aber untergraben es zugleich (…). Der andere ist ja auch nach dem Aspekt der Selbstkonzeption unentbehrlich für unsere Selbstdefinition. Beim Narzissmus, insbesondere beim malignen Narzissmus, führt die gestürzte Grandiosität zu Reaktionen, die auch tödlich sein können.
Eines der häufigsten „Motive“ für Intimizid ist nach Anklageschriften der Staatsanwaltschaft und Gerichtsurteilen die Eifersucht.
Aus: Andreas Marneros, Intimizid – Die Tötung des Intimpartners: Ursachen, Tatsituationen und forensische Beurteilung, Stuttgart 2008
Postskriptum: Das Bett – unser wichtigstes Möbelstück. Anmerkungen zur Kulturgeschichte
Es ist Schauplatz von Lust, Liebe, Zeugung, Geburt, Gewalt, Analyse, Krankheit und Tod, und als Ort jeglicher menschlicher Ausdrucksform, in der Geschichte jedweder Kultur zu finden, und es gehört zu den am häufigsten in der Kunst abgebildeten oder bedachten Gegenständen, wenn auch oft am Rande oder versteckt und nicht selten in Anspielung auf seine metaphorische Bedeutung: das Bett – die Veranschaulichung der Bedingungen menschlicher Existenz. Ein Großteil der Menschen wird in einem Bett ‚geschaffen’ und auf einem Bett geboren, gleichsam nimmt das unerklärliche Mysterium des Lebens dort seinen Anfang, zudem ist es in der überwiegenden Mehrzahl auch der Endpunkt der ‚irdischen’ Existenz, sei es als natürlicher Sterbeort oder (häufig genug auf Gemälden oder filmisch abgebildet) als gewaltsam aufgezwungener Platz des Todes.
Von der Darstellung des Geburtsgeschehens als einem der wichtigsten Sujets der Kunstgeschichte bis hin zu Deutungen dieses Möbels durch zeitgenössische Künstler wie Egon Schiele, Diane Arbus, Lucian Freud, Jannis Kounellis, Antoni Tàpies, Damian Hirst oder als Schauplatz von Performances (Bed-In) – das Bett ist Ausgangspunkt einer Konfrontation mit Daseinskoordinaten – Beginn, Höhepunkte, Niedergang und Abschluss.
[D]as Bett ist das Möbel, in dem der Mensch die allermeiste Zeit verbringt. Durchschnittlich sieben Stunden schläft er am Tag. Fast ein Drittel seiner Lebenszeit verbringt er in Betten. Weit mehr, als er an einem Tisch sitzt oder in einem Sessel. Als Baby schlafen wir 16 Stunden, als Greis immerhin noch sechs Stunden am Tag. Kein Möbelstück ist intimer, keines hat so viel Einfluss darauf, wie wir uns fühlen. Von einem Stuhl, der unbequem ist, stehen wir auf. Ein unbequemes Bett ist eine Katastrophe. (…)
Anders als heute, da das Bett ein Funktionsmöbel ist, war es einst der Mittelpunkt des Lebens. Im heimischen Bett wurde man geboren, dort starb man. Manchmal wurde vom Bett aus regiert – vor allem aber wurde mit dem Bett geprotzt.
Legendär war das Bett von Alexander dem Großen. Es hatte einen goldenen Baldachin und stand in einem Zelt mit 50 goldenen Pfosten. Auf diesem Prunkbett fläzend, pflegte er Besprechungen mit seinen Heerführern zu halten. Die Römer machten das Bett endgültig zum Lebensmittelpunkt, indem sie auf pompösen Speiseliegen, verziert mit Intarsien aus Gold, Silber und Schildpatt, schlemmten und schlummerten.
Frankreichs Könige präsentierten sich vom 14. Jahrhundert an bei offiziellen Anlässen im „lit de justice“, einem Thron in Bettform. Das „Bett der Gerechtigkeit“ sollte die souveräne Haltung des Oberhauptes betonen, das seine Staatsgeschäfte lässig aus Kissen heraus tätigen kann. Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV . nannte 413 Schlafstätten sein Eigen, davon 155 überdimensionierte Exemplare.
Viel Bett bedeutete viel Potenz.
Nach der bürgerlichen Revolution hatte das Bett als Renommierobjekt schnell ausgedient. Nun galt es, in den Mittelpunkt zu stellen, wie fleißig man arbeitet, Verschwendung und Gefallsucht standen nicht hoch im Kurs. Das Bett wurde wieder zur Schlafkiste, in die man sich legte, wenn man sein Tagwerk erledigt hatte. Die Schlafstatt verschwand aus den repräsentativen Räumen. Schließlich war nun das Individuum im Mittelpunkt des Denkens und damit auch die Privatheit. Wer repräsentierte, stand aufrecht.
Es sind Nachwirkungen dieser Zeit, die bis heute die Einstellung vieler Menschen zum (…) prägen. Das Motto: Je weniger, desto besser. (…)
Das bürgerliche Schlafzimmer war schon immer ein Raum, der der Privatheit gewidmet ist – mit Möbelstücken, von denen einige nie außerhalb des Schlafzimmers auftauchen sollten. (…) Im Schlafzimmer war der Mensch so, wie ihn die Gesellschaft nicht sehen sollte, bewusstlos in den Kissen fläzend – oder lustvoll stöhnend. Auch heute gibt es noch diese Verschämtheit. So ist das Bett das einzige Möbelstück, das mit Überwürfen verhüllt wird.
Tillmann Prüfer, Eine Bettgeschichte, in: Die Zeit 43/2012, 18. Oktober 2012
Wir vertrauen uns ihm an, wenn wir schlafen. (…) Das Bett als Rückzugsort ins Private, Intime ist historisch gesehen ein vergleichsweise junges Phänomen. (…) In der Antike war das Bett eher eine Liege zum Schlafen und Speisen, da es unüblich war, Schlaf- und Wohnraum zu trennen.
Erst als das Wohnen intimer wurde, rückte dieses Bett in ein separates Schlafzimmer. Ein eigenes Bett, sogar ein eigenes Zimmer, nur zum Schlafen – das war der Traum vieler einfacher Menschen. Bis ins 19. Jahrhundert war es üblich, dass man sich auch in Gasthäusern Betten teilte. Schließlich gab es bei den einfachen Menschen in Stadt und Land durchschnittlich nur ein Bett für zwei bis drei Haushaltsmitglieder, einschließlich der Schlafgänger in den Industriestädten.
Aber nicht nur die kleinen Leute, auch viele Angehörige des Adels hatten kaum eine Privatsphäre in Form eines eigenen Bettes. Das „Paradeliegen“, sich also öffentlich im Bett zu zeigen und sich auch noch vor den Augen aller an- und auskleiden zu lassen, erscheint uns für einen Staatenlenker mit dieser Machtfülle geradezu absurd. Doch man muss sich klar machen, dass der Körper des Herrschers in der frühen Neuzeit ein politischer Körper war.
Das Bett ist also nicht nur ein Raum des Rückzugs, sondern auch eine Bühne des So- zialen. Eine Bühne, die nicht nur vom Adel vergangener Jahrhunderte genutzt wurde – wie das Beispiel von John Lennon und Yoko Ono zeigt. 1969 verbrachten die Popiko- nen ihrer Zeit die Flitterwochen in einem Hotelbett. Und in Anwesenheit einer ganzen Heerschar von Rundfunk- und Fernsehreportern. Paradeliegen im Dienste des Friedens gewissermaßen. Das Bett erscheint hier als ein Traumort, wenn nicht gar als utopischer Gegenort zu den Schlachtfeldern des Vietnamkrieges. „Make love, not war!“ wird denn auch zu einer eingängigen Parole der friedensbewegten Flower-Power-Generation. Und doch ist das Bett hauptsächlich und in erster Linie nicht nur ein symbolischer Ort für Liebe – das Bett ist und bleibt in seiner langen Geschichte vor allem eine Stätte, in der auch wirklich geliebt, gezeugt und geboren wird – schon aus anatomischen Gründen.
Joachim Meißner, Bettgeschichte, SWR2, 30.11.2017.
Jens Roselt
wurde 1968 in Wildeshausen geboren und studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. 1998 promovierte er zum Thema „Die Ironie des Theaters“. Neben seiner Arbeit als Dozent u.a. an der Freien Universität Berlin, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Technischen Universität Berlin, der Universität Hildesheim und der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin veröffentlichte er zahlreiche Studien zur Theorie und Ästhetik des Theaters, besorgte Dramatisierungen für verschiedene Theater (u.a. für die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: „Erniedrigte und Beleidigte“ 2001) sowie Übersetzungen von Dramen Shakespeares (u.a. für die Kammerspiele München und das Schauspielhaus Zürich) und veröffentlichte eigene Theatertexte: u.a. „Trüffel“ (UA: 1995, Theater Oberhausen), „Dollmatch“ (UA: 1996, Staatstheater Mainz)
„Handicap“ (2000; UA: Bühnen der Stadt Köln). Als Hausautor war er 2000/2001 am Staatstheater Stuttgart engagiert, wo 2002 auch „Dreier“ uraufgeführt wurde. Als Theaterrezensent ist Jens Roselt u.a. für „Theater der Zeit“, „Die Deutsche Bühne“, die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“ tätig.